Der Tote im Grandhotel
an-
dere das Massaker durch einen ganz leisen Schuß beendet hatte, der sah gelassen zu. Vielleicht sogar genüßlich? Er war bestimmt nicht um einen Deut mitleidiger.
Sie hatten etwas mit ihr vor. Jaaa, sie hatten etwas mit ihr vor! Was?
Sie wußte es nicht. Doch sie hätten sie getötet oder laufenlassen, auf keinen Fal hätten sie die Zeugin mitgeschleppt in diesen Keller, wenn sie nicht etwas mit ihr vorhätten.
Der Junge war von hinten an ihren Sessel herangetreten und warf ihr plötzlich eine Schlinge über, die er etwa in Höhe ihrer Schen-kelbeuge an der Lehne festzerrte. Der Magere ergriff ihre rechte Hand. Sie ließ es ohne Widerstand geschehen, daß er den Unter-arm mit einem Lederriemen an der Sessellehne festschnallte. Dasselbe tat er mit ihrem linken Arm.
Sie schloß die Augen, als sei es so möglich, zu entfliehen in ein anderes Land. Vielleicht würde sie aus einem Alptraum erwachen, wenn sie die Augen wieder öffnete?
Sie spürte, wie die beiden Männer nun ihre Füße an die vorderen 20
Stuhlbeine schnallten. Dann gingen sie wortlos zur Tür und machten das Licht aus. Sie machten das Licht aus! Es war stockdunkel.
Sie hörte, wie die Tür verschlossen und offenbar verriegelt wurde.
Nein, das kann nicht wirklich sein. Ein schrecklicher Traum. Es kann nicht sein, daß ich hier angeschnallt sitze wie ein Todeskandidat auf dem elektrischen Stuhl! Ich hab' doch nichts verbrochen!
Vielleicht war es ein bißchen il egal, daß ich diese Uhren mit dem möglicherweise merkwürdigen Inhalt transportiert habe. Mister Ledermans ›Kleine Botin‹, sein ›INA-Engel‹, seine ›Zaubermaus‹.
Sie hatte auf ihren kostenlosen oder stark verbilligten Flügen, die ihr als Angestellter der Fluggesellschaft zustanden, schon mehrmals solcher ›Transporte‹ durchgeführt. Sie wurde nicht überprüft, ihr Gepäck nur oberflächlich gecheckt.
Diesmal waren es Uhren gewesen, made in Hongkong: drollige
Modelle, einige zeigten Indianerköpfe auf dem Zifferblatt, andere Blumen, Mickymäuse, sogar Weihnachtsmänner mit der Aufschrift
›Merry Christmas‹ waren dabei gewesen. Einige waren farbig, blau, weiß, rot oder grün, mit passenden Lederarmbändern.
Jedes Exemplar steckte in einer Zellophantüte, die wiederum in
die Fächer eines Etuis geschoben war, das den Eindruck eines kleinen Reisenecessaires erweckte. Es ließ sich aufklappen, und sie hatte noch scherzhaft zu Mister Lederman gesagt, sie fühle sich beinahe wie die Besitzerin eines Bauchladens. Mister Lederman hatte ge-lächelt und dabei sein zu großes, zu weißes, sicher falsches Gebiß gebleckt.
Er hatte weiße Locken, die über den Ohren abstanden, ein Typ
wie aus einem Comic-Heft. Aber wer lachte denn nun? Bestimmt
nicht Britta Schirrmacher.
Ihr Herz schlug so hart, daß sie fürchtete, es könnte plötzlich überfordert damit aufhören. Es war nicht kalt im Keller, aber auch nicht warm. Die feuchten Stellen zwischen ihren Schenkeln und an ihren Beinen wirkten allmählich wie kühle Kompressen.
21
Sie versuchte, ihre Haltung ein wenig zu verändern, ihren Mus-
keln und Sehnen Erleichterung zu verschaffen trotz der Fesselung.
Mehrmals sagte sie »Mama!«, »Mamilein!«, und dann weinte sie,
leise und gleichmäßig, ohne zu schluchzen, immer auf der gleichen Tonhöhe.
Ihre Mama. Wie sehr hatte sie sich immer nach Mamas Liebe ge-
sehnt. Aber nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter wieder geheiratet, einen freundlichen, neutralen Mann, der die Stieftochter gut behandelt und nie geschlagen hatte. Nicht einmal ausgeschol-ten hatte er sie – wie die drei Kinder, die er und Mama zusammen hatten.
Ihre Geschwister. Nette, neutrale Kinder. Liebe! Liebe – das war etwas, das die kleine Britta über alles begehrte. Auch später, als junges Mädchen, suchte sie danach bei lauter neutralen, oft gar nicht netten Männern. Richard hatte ihr wenigstens die Illusion von Liebe verschafft. Obwohl sie gewußt hatte, daß er letztlich zu seiner Familie halten würde. Jetzt war es vorbei. Wenn ich rauskomme,
werde ich sofort nach New York zurückkehren. Für Mister Leder-
man werde ich nie mehr etwas befördern. Und wenn er mich tot-
schlägt… Und wenn er mich wirklich totzuschlagen droht?
Sie wußte, daß sie sich etwas vorgemacht hatte, von Anfang an:
Die Bezahlung war zu üppig gewesen für den angeblichen ›kleinen Gefallen‹, als den Mister Lederman ihre Botendienste hingestellt hatte.
Bevor sie sich persönlich kennenlernten, hatten
Weitere Kostenlose Bücher