Der Tote im Schnee
Ann der Schinken ein, den sie auf dem Herd hatte stehenlassen. Sie eilte in die Küche und erklärte, daß sie sofort nach Hause müsse. Ola Haver sah sie flüchtig an, sagte aber nichts. Lindell ging zu Berit, um eine tröstende Bemerkung zu machen, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Berit sah sie mit ausdrucksloser Miene an. Hoffentlich lebt der Junge, war der einzige Gedanke, der Lindell durch den Kopf ging.
Sie lief zum Auto, während Erik in seinem Wagen heulte. Auf der Windschutzscheibe saß ein Bußgeldbescheid. Sie riß ihn herunter und warf ihn auf den Rücksitz.
In ein paar Stunden würden ihre Eltern auftauchen. Ich werde einen neuen Schinken kaufen müssen, dachte sie und bog in die Vaksalagatan ein. Im gleichen Moment klingelte ihr Handy. Sie drückte auf den Knopf und war sicher, daß es Ola Haver war.
»Ich weiß«, sagte sie, »aber der Schinken wird trocken.«
»Hallo«, sagte eine wohlbekannte Stimme, und sie wäre fast auf den Wagen aufgefahren, der in diesem Moment vor ihr bremste, an der roten Ampel der Kreuzung zur E 4.
37
Justus wußte, wo er hineingehen würde. Es gab ein Loch im Zaun, und die Baustelle machte es noch einfacher. Die Baubuden standen so, daß er von der Straße aus nicht zu sehen sein würde.
Er fühlte sich mächtig. Niemand sah ihn, niemand hörte ihn, niemand wußte, was er vorhatte. Er blieb neben einem Ölfleck stehen, der auf dem weißen Untergrund schwarz und metallisch schimmerte, und sah sich um. Er hinterließ Spuren im Schnee, aber das war ihm egal. Da er genauso zurückgehen würde, konnte er die Spuren dabei mit einem Besen oder etwas anderem verwischen.
Ein Blechstück, das aus einem Container ragte, vibrierte im Wind und erzeugte einen Ton, der ihn nochmals stehenbleiben ließ. Er schaute an der wohlbekannten Fassade hoch und erkannte erst jetzt, wie heruntergekommen alles war. Früher war dies ein Palast gewesen und John der König darin. Hier war sein Vater im Funkenregen zu einem Giganten gewachsen. Mit selbstverständlicher Sicherheit hatte er die schweren schwarzen Stahlplatten bearbeitet, die einen dumpfen Klang von sich gaben und einen seltsamen Geruch verströmten, der tagelang an den Fingern haftenblieb.
Wenn John und seine Arbeitskollegen sich in den kleinen Pausenraum zurückzogen, ruhte die Werkstatt. Justus war dann stets in der Stille herumgegangen und hatte die Schweißnähte abgetastet, die wie Narben über die Platten liefen. Aus dem Pausenraum waren Stimmen und Gelächter gedrungen. Sie hatten Justus hereingerufen, und er hatte Sanddornsaft aus den finnischen Schären und Butterbrote mit schwarzen Daumenabdrücken auf dem Käse probieren dürfen.
Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei; Justus schob sich hinter den Container und schlich zur Rückseite des Gebäudes, wo es einige niedrigliegende Fenster gab. Mit einem Eisenrohr schlug er eines von ihnen ein. Er macht sich keine Sorgen, entdeckt zu werden. Ein hoher Bretterzaun begrenzte den Hof auf dieser Seite, und auf der Baustelle war kein Mensch.
Er griff durch die zerbrochene Scheibe, öffnete das Fenster und kletterte über einen Stapel Kisten in den Pausenraum. Dort sah alles wie immer aus. An Johns Platz lag eine Zeitung auf dem Tisch. Justus fegte sie zu Boden. Wo Erki normalerweise saß, lag eine Streichholzschachtel, die er an sich nahm. Aus seinen Bewegungen war nun jede Zögerlichkeit gewichen, so als hätte der Anblick des heruntergekommenen Pausenraums seine Entschlossenheit verstärkt. Er schlug eine Tür auf, die aus einer Sperrholzplatte bestand, und schleppte Kanister mit Öl und Benzin aus dem dahinterliegenden Verschlag, dazu eine Reihe von Dosen und Flaschen mit Chemikalien, die er in den Ecken und Nischen der Werkstatt verteilte. In Saganders Büro goß er fünf Liter Lackbenzin aus.
Anschließend machte er einen letzten Rundgang durch die Werkstatt und sah zu Johns altem Arbeitsplatz hinüber. Von dem Geruch im Raum war ihm schwindlig. Er leerte einen Kanister Benzin in der Werkstatt und im Pausenraum aus, schüttete auch etwas auf die Tische und Stühle und kletterte anschließend aus dem Fenster.
Der Wind war stärker geworden. Justus blieb einen Moment stehen, ehe er die Streichholzschachtel herausholte. Das erste Streichholz ging gleich wieder aus, genau wie das zweite. Er zählte die verbliebenen Streichhölzer und befürchtete, sie könnten nicht reichen. Deshalb kletterte er zurück ins Haus, hob die Zeitung vom Boden auf, tränkte sie mit Benzin
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