Der Tote im Schnee
mehrmals betont. Gemeinsam würden sie sich ein neues Leben aufbauen. John, Berit und Justus. Auch Lennart sollte dabei sein. Der Frage, ob Justus’ Großmutter dazugehören würde, war John stets ausgewichen. Wir werden sehen, hatte er gesagt. Hatte John vielleicht mit der Ausführung des Plans warten wollen, bis sie gestorben war?
Justus kam zum zweiten Mal an Erki Karjalainens Haus vorbei. In der Einfahrt parkte ein altes Auto. Auf der Heckscheibe pappte ein Aufkleber mit der finnischen Flagge. Im Fenster, hinter ein paar Adventssternen, war eine Frau zu erkennen. Sie schaute hinaus, und Justus ging schneller. Hundert Meter weiter endete die Straße in einem Wendehammer und dahinter lag ein Waldstück. Der Junge blieb mitten auf dem Wendehammer stehen. Die schneebeschwerten Fichten erinnerten ihn an einen Ausflug, den er vor zwei Jahren zusammen mit John gemacht hatte. Er fühlte sich müde und leer, aber die Erinnerung an die Freude seines Vaters im Wald entlockte ihm für einen Moment ein Lächeln. Dann kamen ihm die Tränen. Sie hatten einen Weihnachtsbaum schlagen wollen. »Wir sparen mindestens zweihundert Kronen«, hatte John gesagt. Ob der Weihnachtsbaum oder die Freude darüber, zusammen mit seinem Sohn im Wald sein zu dürfen, für Johns ungewöhnliche Ausgelassenheit verantwortlich war, spielte keine Rolle – damals nicht und heute auch nicht. John hatte gelacht, Justus an der Hand genommen, und gemeinsam hatten sie mindestens zwanzig Bäume begutachtet, ehe sie sich für einen entschieden.
Ein Auto näherte sich, und Justus ging an den Straßenrand. Das Auto geriet ein wenig ins Schleudern, als es wendete. Es hatte ein finnisches Nummernschild, und als Justus ihm nachschaute, sah er, daß es vor Karjalainens Garage parkte.
Justus ging in den Wald hinein. Es schneite, und obwohl es mitten am Tag war, wurde es bereits dunkel. Am Waldrand gab es noch Fußspuren im Schnee, aber nach zehn Metern war die Schneedecke unberührt. Er stapfte weiter. Der Rucksack hüpfte auf seinem Rücken auf und ab. Justus spürte dessen Gewicht, aber das machte ihm nichts aus. Als er ein paar Minuten gegangen war, endete das Wäldchen plötzlich, und er stand vor einem kleinen roten Holzhaus. Die Fenster waren hell erleuchtet, auf dem Hof stand ein Strohbock. Justus ging zu ihm. Rote Seidenbänder hielten das Stroh zusammen. Er streichelte den Bock und streifte etwas Schnee ab, der sich auf dem Rücken angesammelt hatte. Wieder kamen ihm die Tränen, obwohl er sich bemühte, sie zu unterdrücken.
Das Haus sah aus, als stamme es aus einem Märchenbuch. Justus kam es merkwürdig vor, daß ein Häuschen wie dieses so nahe an der Stadt lag. Wer wohnt hier? konnte er gerade noch denken, als eine ältere Frau die Haustür einen Spaltbreit öffnete und den Kopf heraussteckte.
»Frohe Weihnachten«, sagte sie, und wenn ihm nicht so schwer ums Herz gewesen wäre, hätte er gelacht.
»Frohe Weihnachten«, murmelte er. »Ich habe mich wohl ein wenig verlaufen«, fügte er hinzu, um zu erklären, warum er auf einem fremden Grundstück stand.
»Das kommt ganz darauf an, wo du hinwillst«, meinte die Frau und trat auf die Eingangstreppe hinaus.
»Das Haus sieht aus wie aus einem Märchen«, sagte Justus.
Seine Hand lag auf dem rauhen Kopf des Bocks.
»Es ist schön, nicht?« erwiderte die Frau. »Bist du auf dem Weg zur Weihnachtsfeier?«
Justus nickte, obwohl er nicht verstand, was sie meinte.
»Geh auf die Straße und dann rechts. Nach einer Weile kommst du zu einem Schild, auf dem ›UKS‹ steht. Da mußt du reingehen. Es ist nicht weit.«
Justus schlug die Richtung ein, die sie ihm gewiesen hatte.
»Frohe Weihnachten«, wiederholte sie.
Nach zehn Metern hielt er inne und drehte sich um. Die Frau stand noch auf der Treppe.
»Du willst gar nicht zu der Weihnachtsfeier, was?«
Er schüttelte den Kopf. Für ein paar Sekunden war alles still. Es hatte aufgehört zu schneien.
»Wenn du willst, kannst du reinkommen«, sagte sie. »Vielleicht möchtest du was Warmes.«
Justus sah sie an, und nach kurzer Bedenkzeit schüttelte er den Kopf.
»Ich muß weiter«, sagte er.
»Ich habe gesehen, daß du geweint hast«, erwiderte die Frau.
Fast hätte der Junge ihr alles erzählt. Ihre freundliche Stimme, das Häuschen, das vorn Schnee eingebettet war, und seine Sehnsucht nach Wärme ließen ihn zögern.
»Ich dachte, ich hätte mich verirrt«, sagte er und schluckte.
»Komm herein und wärm dich ein wenig auf.«
Er
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