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Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
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beschwerte er sich nur selten über etwas anderes. Nicht einmal über Lennart, als er es in seiner Jugend am schlimmsten getrieben hatte.
    »D-d-d-du m-m-mußt d-d-dich anständig b-b-benehmen«, hatte Albin manchmal gestottert, deutlichere Worte jedoch selten gefunden.
    Es war ungewohnt, aber auch ein gutes Gefühl, früh halb sechs aufzustehen. Er konnte sich beinahe einreden, er wäre ein ganz normaler, strebsamer Arbeiter, der den üblichen Morgenbeschäftigungen nachging, während Schnee auf eine winterliche Landschaft fiel. Er würde heute ein Tagwerk verrichten, mit der Hand auf das Schild zeigen und sagen: Wir räumen hier den Schnee von den Dächern, würden Sie bitte die andere Straßenseite benutzen. Und vielleicht auch noch ein Dankeschön hinzufügen, wenn es eine Frau war, die gut aussah. Am liebsten wäre es ihm, wenn ein paar seiner Saufkumpane vorbeikämen. Nein, lieber doch nicht. Sie würden bloß herumlabern und ihn von der Arbeit abhalten.
    Er besaß Stiefel, eine lange Unterhose und eine ordentliche Winterjacke. Dazu noch Fäustlinge von Fosfosor, die für Temperaturen bis minus dreißig Grad geeignet waren. Sie lagen ganz hinten im Schrank. Schwarz, rauh und mit einem filzigen Innenhandschuh. Er war gerüstet.
    Die Thermoskanne der Marke Kondor, bei der irgendwer einmal das »r« durch ein »m« ersetzt hatte, war feuerrot, die dazugehörige Tasse grau. Lennart mußte an den Traktorfahrer auf dem Brantings torg denken, in der Nacht, als er auf dem Heimweg von Berit gewesen war. Jetzt ging er selber zur Arbeit wie jeder andere auch.
    Lennart blieb am Fenster stehen. Seine Gedanken waren wieder bei John. Es verging kaum eine Minute, ohne daß Erinnerungsbilder an ihm vorbeizogen. Wie lange würde das so weitergehen? Bis der Mörder gefaßt war, und dann für den Rest seines Lebens, ahnte er. Den Menschen zu verlieren, der einem am nächsten gestanden hatte, dessen Existenz so eng mit der eigenen verwoben war, bedeutete einen lebenslangen Verlust. Nie mehr würde er mit John so entspannt plaudern können, so, wie er mit niemandem sonst sprechen konnte. Der Verlust war nicht zu verwinden.
    Reiß dich zusammen, dachte er. Du wirst Schnee schaufeln, dann den Mörder suchen. Wenn er erledigt ist, kannst du dich zu Tode saufen. Er lächelte schief. In ihm keimte der Gedanke, daß er wie alle anderen werden könnte. Wenn auch kein Malocher zwischen sieben und vier, dafür war er zu träge. Außerdem spielte sein Rücken dabei nicht mehr mit. Aber vielleicht konnte er eine halbe Stelle in Mickes Firma bekommen. Von Dachblechen verstand er ein wenig, immerhin war er der Sohn des Dachdeckers. Und im Winter fiel Schnee. Mit den Fosforos-Handschuhen konnte er es lange in Kälte und Wind aushalten.
    Es gab noch immer Leute, die ihn grüßten, alte Arbeitskameraden von den Baustellen. Einige von ihnen blieben stehen und wechselten ein paar Worte mit ihm, fragten, wie es ihm ging. In Zukunft würden sie natürlich mit ihm über John sprechen wollen, und er konnte schließlich nicht betrunken von seinem ermordeten Bruder erzählen.
    Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, was sein Bruder gemacht hatte, nachdem er aus Mickes Wohnung gegangen war, hatte Lennart erkennen lassen, wie wenig er im Grunde über John wußte. Wie war er, wenn er andere Menschen traf? Welche Rolle spielte er in seinem Aquaristikverein? Viele hörten ihm zu, wenn er über Fische redete, sie sahen in ihm den Experten. Sie kannten seine Lebensgeschichte nicht, sahen ihn ihm nur einen netten Kerl mit einer Leidenschaft für Buntbarsche. Unter diesen Leuten war John ein anderer Mensch. Auf eine schwer in Worte zu fassende Art empfand Lennart dies als einen Verrat an ihm und dem Leben, das John und er gemeinsam geführt hatten. Bisher hatte er in Johns Interesse an Fischen nur ein Hobby gesehen, das weder besser noch schlechter war als jedes andere auch. Die einen gingen kegeln, andere spielten Schach – deshalb waren sie noch lange nichts Besonderes. Lennart war zwar stolz auf das Aquarium seines Bruders gewesen, hatte einen Teil der Ehre für sich in Anspruch genommen, daß sein Bruder das größte Aquarium der Stadt besaß, doch erst jetzt hatte er erkannt, daß John ein allseits geschätzter Experte auf seinem Gebiet gewesen war, den man angerufen und um Rat gefragt hatte. Es war eine andere Rolle, ein anderes Leben gewesen.
    Und dann die Sache mit der Pokerpartie. Lennart wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, daß John solche

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