Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
Vom Netzwerk:
reif für eine Revanche. Niemand hatte sich Gedanken um ihn gemacht. Woher kam die Wut, die seinen Vater immer sadistischere Formen der Bestrafung entwickeln ließ? Anfangs hatten ihm noch die Fäuste gereicht, dann benutzte er den Gürtel, und schließlich kam das grauenvollste, das ins Waschbecken gedrückte Gesicht.
    Vincent zitterte. Die Kopfschmerzen drohten ihn zu übermannen, ihn in einen kriechenden Haufen aus Haut und Knochen zu verwandeln. Du hast bekommen, was du verdient hast, John. Wenn ich es nicht war, so doch eine Kraft, die das gleiche Ziel verfolgt.
    Vincent Hahn schwitzte unter der kratzenden Wollmütze. Es juckte. Er wollte weinen, wußte jedoch, daß seine Tränenkanäle nicht wie bei anderen Menschen funktionierten. Seit er dreizehn war, hatte er nicht mehr geweint.
    Er legte den Kopf in die Hände. Er spürte die Blicke der anderen. Er sollte lieber anfangen zu spielen. John war ganz in der Nähe. Ein neutrales Bild ohne Gefühl und Schärfe.
    »Du bist gestorben«, murmelte er. Bald ist Janne an der Reihe oder ein anderer. Vincent erinnerte sich nicht mehr an die Rangordnung auf der Liste, die er aufgestellt hatte. Die Gesichter flossen ineinander. Plötzlich hatte er nicht mehr John vor Augen, sondern das Gesicht seines Vaters. Er war viel zu spät aufgewacht! Als er die rächenden Schläge austeilen wollte, war sein Vater bereits in der Krankheit verschwunden, seine Würmer hatten ihn zu einem Skelett abmagern lassen. Vincent erinnerte sich an die ausgemergelte Hand, die nach dem Krankenhausbett griff. Er hatte sie genommen und mit aller Kraft gedrückt. Sein Vater hatte aufgeschrien, ihn aus wäßrigen Augen angesehen und verstanden. Dann hatte er satanisch gelächelt, jenes Lächeln gezeigt, das die Frauen in seiner Nähe verführt, Vincent jedoch vernichtet hatte. Die Leute fanden es charmant, aber Vincent wußte es besser.
    Das Porträt seines Vaters lächelte ihn aus der Zeitung an.
    Er schlug mit der Hand auf das Foto. Ein Mitarbeiter der Bingohalle kam zu ihm.
    »Jetzt müssen Sie aber bitte gehen«, sagte er. »Sie stören die anderen.«
    Er klang ganz freundlich.
    »Ich gehe gleich«, erwiderte Vincent unterwürfig. »Ich habe nur solche Kopfschmerzen.«
    Er nahm die Mütze ab und entblößte den unzulänglichen Verband.
    »Was haben Sie gemacht?«
    »Mein Papa hat mich geschlagen.«
    »Ihr Papa?«
    Vincent nickte.
    »Mein Bruder auch.«
    Er stand auf.
    »Ich muß jetzt gehen.«
    »Sie sollten einen Arzt aufsuchen«, meinte der Mann.
    »Mein Vater war Arzt, glaube ich, oder etwas Ähnliches. Mama hat die meiste Zeit deutsch gesprochen. Sie war Jüdin und er Nazi. Oder vielleicht auch Kommunist. Nein, so war es nicht. Die sind rot. Vater war schwarz.«
    »War er ein Neger?«
    Vincent wankte auf die Straße hinaus. Die Bangårdsgatan glich einem Windkanal, durch den der Schnee mit einem heulenden Geräusch trieb. Die Menschen duckten sich, zogen Kapuzen, Schals und Mützen enger um sich. Die Geräusche ihrer Füße wurden vom Schnee verschluckt. Ein Krankenwagen fuhr vorbei. Lastwagen mit Waren verstopften die Straße und verdeckten die Sicht. Er wollte weiter sehen können und ging zum Fluß hinab.

29
    Lennart Jonsson war völlig erschlagen. Es war halb fünf und draußen wie drinnen war es pechschwarz. Er machte kein Licht in der Wohnung, während er die Kleider auszog, die in einem Haufen auf dem Fußboden landeten. Er roch nach Schweiß, aber das war nicht nur unangenehm. Er fuhr mit der Hand über die behaarte Brust, seine Schulter und den linken Oberarm. Seine frühere Muskulatur war noch nicht völlig verschwunden. Er kratzte sich im Schritt, und Lust keimte in ihm auf.
    Er hatte Rückenschmerzen, aber daran war er so gewöhnt, daß er kaum einen Gedanken daran verschwendete. Er hatte noch Schmerztabletten im Haus und beschloß, eine zu nehmen. Auf dem Weg ins Badezimmer registrierte seine Nase einen fremden Duft. Er blieb stehen, schnüffelte. Parfüm, der unverkennbare Duft eines fremden Parfüms.
    Er sah sich um. Jemand war in seiner Wohnung gewesen. War der Eindringling etwa noch da? Vorsichtig zog er sich rückwärts Richtung Küche zurück, um sich zu bewaffnen. Es gefiel ihm nicht, nackt zu sein, und er hob seine Unterwäsche vom Boden auf. Irrte er sich? Nein, der Duft war noch da. War es das Parfüm einer Frau oder eines Mannes. Er lauschte aufmerksam in die Wohnung hinein.
    Dann schlich er in die Küche, zog vorsichtig die Besteckschublade auf und holte ein

Weitere Kostenlose Bücher