Der Tote in der Wäschetruhe
schwingt die Ohnmacht mit, sein Kind so nah am sicheren Zuhause nicht gerettet haben zu können.
Das Ehepaar hat lange überlegt, bevor es sich zu diesem Gespräch durchgerungen hat. Es befürchtet, dass all der Schmerz, der im Innersten begraben ist, wieder aufbrechen könnte. Nicht zu Unrecht. Doch er ist beherrschbar, jetzt, nach der langen Zeit, die verstrichen ist. Der Sohn hat geheiratet, und die Enkelkinder machen Oma und Opa stolz, selbst wenn die Enkeltochter mit ihren 14 Jahren »manchmal eine richtige Zicke ist«, wie Gerda Moritz eher liebevoll als tadelnd sagt. Diese Phase des Hinüberwachsens vom Kind zum Teenager - bei Michaela konnte sie diesen Lebensabschnitt nicht begleiten.
Das Ehepaar Moritz verspürte Hass auf den Täter und hatte Rachegelüste. Beides ist überwunden, obwohl er sie nie um Verzeihung gebeten hat für das, was vielleicht auch nie zu vergeben ist. Er hat es nicht einmal versucht.
Was an den Eltern von Michaela nagt, auch heute noch, ist die Ungewissheit darüber, was genau mit ihrer Michaela in dem Wald vor ihrer Haustür geschehen und was in dem Kopf des Täters vor sich gegangen ist. Darüber hat niemand mit ihnen gesprochen, auch nicht nach Abschluss des Gerichtsverfahrens. Werner Moritz hat ein paar Blätter Papier herausgesucht. Darunter ist eine Benachrichtigung des Bezirksgerichtes Cottbus darüber, wann der Prozess stattfinden wird, und eine Mitteilung über die Gewährung von Schadenersatz für Trauerkleidung und Grabstätte der Tochter. »4000 Mark, damit war das Leben unserer Tochter abgegolten«, sagt er. »Doch das Geld war uns sowieso nicht wichtig, denn für das Leben von Michaela konnte es keine Entschädigung geben.« Und da ist noch eine Ablichtung aus der Ortschronik mit ein paar Zeilen über den Mord an Michaela Moritz. Ein dunkler Schatten sei auf die Schule gefallen, hat der Chronist dazu aufgeschrieben. Dass die Schule in ein schlechtes Licht geraten könnte, sei damals wirklich die größte Sorge der Schulleitung gewesen, ärgert sich Gerda Moritz noch immer. Die Klassenlehrerin habe Anteil genommen, sonst keiner von der Schule.
Gerda und Werner Moritz mussten schmerzhaft erfahren, dass ihre Mitmenschen nicht wussten, wie sie sich gegenüber den Hinterbliebenen eines Mordopfers verhalten sollten. »Auf dem Friedhof haben die Leute einen Bogen um uns gemacht«, beschreibt Gerda Moritz die Furcht der Mitbewohner vor zu großer Nähe, ihre Angst, neugierig zu wirken oder Schmerz und Leid noch zu vertiefen. Sie selbst haben sich in dieser Zeit auch nicht unter die Leute getraut. Zur Arbeit in die Brikettfabrik Knappenrode wollte sie nicht mehr gehen und in die Betriebskantine zum Mittagessen schon gleich gar nicht, erzählt Gerda Moritz. Zum Glück hat wenigstens ihr Kollektiv sich um sie gekümmert und sie aus der Isolation geholt. »Mein Mann und ich, wir haben nichts mehr gefühlt, waren wie ausgebrannt, haben nur noch funktioniert«, beschreibt die Mutter von Michaela diese Zeit des stumpfen Dahinlebens und der nächtlichen Alpträume vom Tod ihrer Tochter, die beim Aufwachen zur brutalen Realität wurden. Zum Glück gab es den damals siebenjährigen Sohn, der seine Eltern brauchte und sie forderte und sie damit ins Leben zurückführte. Sie wissen nicht, ob ohne diese Verantwortung für den Jungen nicht ihre Ehe und darüber hinaus jeder für sich am Tod der Tochter zerbrochen wäre. Aus dem eigenen Erleben raten Gerda und Werner Moritz Hinterbliebenen von Gewaltopfern, mit Menschen ihres Vertrauens zu sprechen, um zu begreifen und zu verarbeiten, was geschehen ist.
Das Grab von Michaela Moritz gibt es nicht mehr. Die Liegezeit ist abgelaufen. Fotos der Tochter stehen nicht in der Vitrine und hängen nicht an den Wänden. Unerträglich wäre die tägliche Erinnerung. Die Bilder sind aufbewahrt in Alben und im Herzen. Die seelischen Wunden, die der Mörder den Eltern zugefügt hat, sind verheilt. Doch Narben sind geblieben.
Am Tag, als Michaela unterwegs war, um Milch im Konsum zu holen, hatte der Vater die Zeit genutzt, eine Flugente für den Sonntagsbraten zu schlachten. Michaela kam nicht mehr zurück. Seither hat Werner Moritz nie wieder ein Tier geschlachtet, bevor nicht alle aus der Familie vollzählig daheim waren. Und das wird auch in Zukunft so sein.
DER TOTE IN DER WÄSCHETRUHE
Es ist einer jener Tage im September 1984, wie es sie im heranbrechenden Herbst öfter gibt in dieser Gegend. Ein Tag, der auf den Gemütern der Menschen in der
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