Der Tote in der Wäschetruhe
selbst in der Enge der kleinen Wohnung, die es mit sich bringt, dass der 15-jährige Harald im Zimmer der Eltern schläft.
Harald fühlt sich früh allein gelassen. Er hat das Gefühl, dass er mehr im Haushalt helfen muss als die Mädchen: Kohle und Holz holen, heizen, Asche rausbringen, die Kaninchen füttern. Mit den Schwestern gibt es häufig Streit, dann kann er seinen Jähzorn kaum bändigen. Er beißt sich in seiner unbändigen Wut selbst schmerzhaft in die Hand, ritzt sich mit Glasscherben die Handgelenke in der Nähe der Pulsadern auf, drückt sich selbst die Luft ab, bis ihm schwindelig wird. Die Mutter merkt nichts davon, und der Vater ist schnell mit Prügel bei der Hand, wenn der Sohn nicht spurt. In solchen Momenten will der Junge am liebsten von zu Hause abhauen, sich im Wald eine Hütte bauen und sich dorthin zurückziehen. Die innigsten Beziehungen hat er zur Oma, die gleichfalls auf dem Grundstück wohnt und den Jungen in den ersten Lebensjahren betreut, ihn erzieht, dem Enkel aber auch manches im Verhalten nachsieht.
Als Harald in den Kindergarten kommt, kann er schlechter sprechen als Gleichaltrige. Er wird gehänselt, zieht sich zurück und spielt viel allein. Passt ihm etwas nicht, rastet der Junge aus, schmeißt mit Stühlen und prügelt sich mit den Kindern seiner Gruppe.
In der Schule ändert sich in den folgenden Jahren am Verhalten des Jungen nichts. Auch mit den Leistungen hinkt er hinterher. Die Drei ist für ihn eine gute Note, Vieren und sogar Fünfen überwiegen im Klassenbuch. Jahr für Jahr schrammt er nur knapp am Sitzenbleiben vorbei. Harald ist nach Einschätzung der Lehrer der leistungsschwächste Schüler der Klasse, der kaum Erfolgserlebnisse hat. Die Klassenkameraden meiden ihn, weil er schmuddelig aussieht, unangenehm riecht, an den Fingernägeln knabbert, schnell reizbar ist und sich bei jeder Gelegenheit prügelt.
Seit dem sechsten Lebensjahr raucht der Junge. Zigaretten besorgt er sich beim Vater und Opa, kauft billige Sorten wie »Karo« und »Salem« in HO und Konsum oder klaut sie einfach aus den Geschäften. Keiner der Erwachsenen scheint die Nikotinsucht zu bemerken oder nimmt erzieherisch Einfluss darauf. Als eine Schwester beim großen Bruder Zigaretten findet und ihn beim Vater verpetzt, setzt es für den Jungen eine Tracht Prügel. Hin und wieder hat er einen Kumpel, einen richtigen Freund aber hat er nie.
In der Sportgemeinschaft Dynamo nimmt Harald regelmäßig am Schießtraining teil. Hier erzielt er Erfolge, ist kameradschaftlich und hilfsbereit. Er genießt Anerkennung, die ihm sonst versagt ist und die er auf andere Art zu erlangen versucht. So kauft er für die Jungs in seiner Klasse »Pariser«. Die schämen sich zwar, die Kondome in der Drogerie selbst zu verlangen, haben dann aber den Mut, diese vor den Mädchen aufzublasen oder mit Wasser zu füllen. Seine »Dienstleistung« lässt sich Harald allerdings mit Trinkgeld belohnen, was unter wirklichen Freunden in diesem Alter und bei dem wenigen Geld, das sie in der Tasche haben, eher unüblich ist.
Für die damalige Zeit schon recht zeitig, reift das Kind zum Manne. Mit zwölf, dreizehn Jahren sprießen die ersten Haare auf der Scham, nachts kommt es zum Samenerguss. Er spürt im Schlaf den Drang nach Entleerung, möchte ihm widerstehen und kann den Ausfluss doch nicht verhindern. Früh nach dem Aufwachen schämt er sich, weil er glaubt, dass er eingenässt hat. Das Thema Sex ist in der Familie tabu, dafür ist die Schule zuständig. Die beschränkt sich im Biologieunterricht in den wenigen Stunden Sexualkunde, die der Lehrplan enthält, auf die inneren und äußeren Geschlechtsorgane von Frauen und Männern und wie aus Samen und Eizelle ein Kind entsteht. Als ihn die Mutter einmal morgens im Bett beim Onanieren überrascht, schimpft sie nur: »Lass das. Das macht man nicht.« Der Junge versteht die Schelte nicht, denn er weiß, dass sich auch die anderen Jungs in der Klasse und in der Sportgemeinschaft »einen runter holen«. Die Pornobilder, die heimlich getauscht werden unter den Schülern und von denen die Polizei bei der Hausdurchsuchung bei Harald einige sicherstellt, vermitteln
dem Heranwachsenden nichts über die wirkliche Liebe zwischen Mann und Frau, sondern stellen sie nur als triebhaften Sex dar. Dass sich dabei der Mann nimmt, was ihm sein Verlangen diktiert, ist für den Heranwachsenden die Erkenntnis.
Wie verkümmert die sexuellen Ansichten sind, dass Aufklärung nicht stattgefunden
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