Der tote Raumfahrer
phänomenal. Wir glauben, daß sie ineinandergeschlossene Kreise enthalten, in denen hochkonzentrierte Materie in periodische oder oszillierende Resonanz gezwungen und in Wechselwirkung mit hochenergetischen Kraftfeldern gebracht wird. Es ist möglich, daß die daraus resultierende Folge von raschen Veränderungen des Gravitationspoten-tials irgendwie nutzbar gemacht wurde, um in dem das Schiff umgebenen Raum eine kontrollierte Verzerrung zu induzieren. Mit anderen Worten: Das Schiff bewegte sich dadurch vorwärts, indem es kontinuierlich in ein Loch fiel, das es selbst vor dem Bug erzeugte – so eine Art vierdimensionale Panzer-Laufkette.«
»Sie meinen, es hüllte sich selbst in eine Raum-Zeitblase ein, die sich irgendwie durch den Normalraum ausbreitete?« fragte jemand.
»Wenn Sie wollen, ja«, bestätigte der Techniker. »Ich glaube, die Blase ist so gut wie jede andere Analogie. Der interessante Punkt ist der: Wenn es so funktioniert, dann unterliegt jedes Atom des Schiffes und alles, was sich im Innern befindet, exakt der gleichen Beschleunigung. Deshalb können keine Gravitationsveränderungseffekte auftre-ten. Sie könnten das Schiff innerhalb einer Mikrosekunde mit einem Schlag von, sagen wir, anderthalb Millionen Stundenkilometern auf Null abbremsen – und niemand im Innern würde den Unterschied bemerken.«
»Wie steht's mit der Höchstgeschwindigkeit?« fragte ein anderer. »Gibt es eine relativistische Grenze?«
»Wir haben keine Ahnung. Die Kollegen von der Theorie oben in der Jupiter-Vier haben sich darüber mächtig den Kopf zerbrochen. Die konventionellen Gesetze der Mechanik wären auf keine Bewegung des Schiffes mehr anwend-bar, da es sich in dem lokalen Universum im Innern der Blase nicht wirklich bewegen würde. Das Problem, wie sich die Blase durch den Normalraum ausbreitet, steht auf einem ganz anderen Blatt. Eine ganz neue Feldtheorie muß ausgearbeitet werden. Vielleicht werden vollkommen neue physikalische Gesetze wirksam – aber wie ich schon sagte, wir wissen es einfach nicht. Nur eines scheint klar zu sein: Diese photonenbetriebenen Raumschiffe, die man in Kalifornien konstruiert, könnten sich, noch bevor sie gebaut sind, als veraltet herausstellen. Wenn wir genug über die Funktionsweise dieses Schiffes herauszufinden vermögen, dann bringt uns dieses Wissen möglicherweise um hundert Jahre nach vorn.«
Am Ende dieses Tages konnte Hunt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die neuen Informationen drangen schneller auf ihn ein, als er sie verarbeiten konnte. Die Fragen in seinem Kopf vermehrten sich tausendmal schneller, als sie überhaupt beantwortet werden konnten. Mit jeder neuen Enthüllung wurde das Rätsel des ganymedischen Raumschiffes verblüffender. Aber dahinter lag noch immer das ungelöste Lunarier-Problem. Er benötigte Zeit, um sich in sich selbst zurückzuziehen und nachdenken zu können.
Zeit, seine Gedanken zu entwirren und das mentale Durcheinander in logische Gedanken aufzulösen, die er in den ordnungsgemäßen Schubladen seines Bewußtseins ablegen konnte. Dann hätte er besser erkennen können, welche Frage wovon abhing und was zuerst in Angriff genommen werden mußte. Doch das Durcheinander türmte sich schneller auf, als er es abtragen konnte.
Nach dem Abendessen wurde das Scherzen und Gelächter in der Messe bald unerträglich. Als er allein in seinem Zimmer war, allein zwischen den Wänden, bekam er Platz-angst. Eine Zeitlang marschierte er durch die verlassenen Korridore zwischen den Kuppeln und Gebäuden. Sie waren beklemmend. Zu lange hatte er in Metallbüchsen gelebt.
Schließlich erreichte er die Kuppel des Kontrollturms. Er starrte hinaus auf die den Stützpunkt umgebende hellglän-zende, graue Wand. Sie wurde von dem Scheinwerferlicht geschaffen, das durch die Methan-Ammoniaknebel der ganymedischen Nacht sickerte. Nach einer Weile war selbst die Anwesenheit des Aufsichtsbeamten, dessen Gesicht durch den reflektierenden Glanz der Konsole aus der Dunkelheit herausstach, nicht mehr auszuhalten. Auf dem Weg zur Treppenspindel blieb er an der Geräteeinheit stehen.
»Tragen Sie mich für einen Oberflächenausflug ein.«
Der Aufsichtsbeamte sah zu ihm herüber. »Sie wollen nach draußen?«
»Ich brauche frische Luft.«
Der Kontrolleur schaltete einen seiner Bildschirme ein.
»Ihr Name, bitte?«
»Hunt, Dr. V. Hunt.«
»Identifikationsnummer?«
»730289C/EX4.«
Der Kontrolleur vermerkte die Details, sah auf die Uhr und tastete die Zeit
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