Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
irgendwann wirklich angefangen zu malen. So war das.«
»Und was ist mit der wirklichen Frau geschehen?«
»Ich habe sie nie wieder gesehen, sie war offenbar nicht aus unserem Viertel.«
Die Tabakfrau erkundigte sich, ob man mit der Malerei überhaupt genug Geld verdienen könne.
Sie verdiene sich ihren Lebensunterhalt nicht mit der Malerei, sondern in einem Büro, antwortete Livia, und das sei schon fast ein Privileg. Sie arbeite seit einem Jahr in der Dokumentation Kunstdieb stahl in der Kulturbehörde der Region. Livia saß zwar hauptsächlich vor dem Computer, telefonierte oder forschte in Bibliotheken nach Fotos oder Abbildungen der gestohlenen Werke, hatte aber wenigstens mit Kunstobjekten verschiedenster Art zu tun, vom Weihwasserbecken über den silbernen Kandelaber bis zum Ölgemälde, auch wenn diese Objekte für sie paradoxerweise erst dadurch lebendig wurden, daß sie nicht mehr aufzufinden waren. Der Job war nicht allzu schlecht bezahlt, immer wieder interessant, mittlerweile wurde ihr immer mehr Verantwortung und Eigeninitiative zugestanden, und schließlich blieb genug Zeit für die Arbeit an der Staffelei.
Sie schwiegen.
»Machen wir weiter?«
Die Tabakfrau nickte. »Sie haben es gut«, seufzte sie dann.
»Wieso?«
»Weil Sie malen«, erwiderte sie schlicht.
»Und Sie, was würden Sie lieber machen?« fragte Livia.
»Lieber als im Tabakladen stehen?«
Eine schwierige Frage. Während die Malerin wieder hinter der Leinwand verschwand, dachte die Tabakfrau darüber nach. Es war eine Frage, die so klang, als sei nur sie allein angesprochen, Assunta Maria Balzano, nicht das Drumherum, dieses abgestandene Leben: das Geldverdienenmüssen, der Tabakladen, den sie von den Eltern übernommen hatte, die Kinder, die sich bis auf Anna selbst versorgten, vom Wäschewaschen für Paolo mal abgesehen. Sie wußte keine Antwort, auch wenn sie genau wußte, daß die Frage schon im Raum gestanden hatte, bevor sie das Atelier betrat, und daß die Malerin im Grunde nur das ausgesprochen hatte, was sie sich selbst nicht zu fragen getraute. Der Tabakladen jedenfalls war nicht ihr inneres Zuhause.
Vielleicht, dachte sie, als ihr Blick wieder zum Paravent schweifte, würde ich reisen, weit weg, nach Sibirien, nach China, Indonesien, Australien, und auf der anderen Seite vom Erdball wieder zurück, oder zum Nordpol oder nach Afrika, schon eine Fahrt nach Monte Carlo oder nach Venedig wäre nicht übel. Wenn ich die Wahl hätte. Wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte.
Vor ihr tauchte ein zierliches, dünnes Mädchen auf, mit Strohhut und einem langen schwarzen Zopf, der bis zu den Knien reichte. Das Mädchen stand an einem Gewässer und sah den rosafarbenen Kranichen auf dem Paravent zu, oder waren es Flamingos, es watete durch das seichte Wasser, unten, an der Riviera di Chiaia, in der Hand einen Plastikeimer, schon halb mit Miesmuscheln gefüllt. Dann und wann warf es einen verstohlenen Blick hinüber zur Kaimauer, wo sich bei niedrigem Wasserstand ein schmaler Streifen Sand aus dem Wasser löste. Dort standen ein junger Mann und ein junges Mädchen, der junge Mann drückte mit seinem Körper den des jungen Mädchens, das ihre ältere Schwester war, an die Steinwand, die zwei knutschten, das wußte das Mädchen bereits und auch, daß die Schwester mit ihren fünfzehn Jahren sich die Knutscherei gern gefallen ließ. Das Mädchen war erst neun und sah sich alles ganz genau an. Leicht sah es aus. Verlockend. Wenn sie nur auch erst fünfzehn wäre und sich von so einem jungen Kerl gegen die Mauer drücken ließe.
Und schon war es soweit, denn manchmal, in Träumen, in der Erinnerung, folgt die Zeit ihren eigenen Gesetzen – schon ging das Mädchen in die Breite wie ein Luftballon, der endlich aufgeblasen wird, die erste Schwangerschaft, das Geknutsche an der Mauer lag weit zurück, die Folgen rührten sich in ihrem Bauch.
Am Anfang war die mamma , welch ein Glück, wenn die Kinder es zum ersten Mal sagten, die Belohnung für all das Warten, Entbehren und Entsagen, das Wort Mutter: mamma – auch wenn sie eigentlich etwas zu essen damit meinten, die lieben kleinen Menschenfresser, mammam , die zu verspeisende mamma womöglich… Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier: Massimo nach dem Ehemann, Paolo nach dem Vater, Giuseppe nach dem Schwiegervater – und dann kam noch Anna. Anna nach niemandem. Einfach: Anna. Derweil wurde die mamma dick und ihrer Aufgabe voll gerecht, den Kindern Schutz zu bieten, in
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