Der Tote vom Kliff
Wohnraum auf, der bestimmt über achtzig
Quadratmeter maß. Mehr als das bereits von ihr abgeräumte Geschirr war nicht zu
entdecken. Sie warf einen Blick durch die große Scheibe, die in den Atriumhof
führte. Der gesamte Gebäudekomplex bestand aus vier Flügeln. Und im überdachten
Innenhof befand sich der Swimmingpool, zu dem nicht nur vom Wohnsalon, sondern
auch von den Schlafräumen des Seitenflügels aus Zugang bestand. Unter den
Palmen in der gegenüberliegenden Ecke entdeckte sie neben den beiden Liegen
weitere Gläser.
Imke Feddersen stöhnte ein wenig, als sie das große
gläserne Schiebeelement, das Wohnraum und Pool trennte, zur Seite schob.
Feuchtwarme Luft schlug ihr entgegen. Sie wunderte sich stets, wie warm es der
Hausherr liebte. Während die Familie Feddersen fortwährend Überlegungen
anstellte, wie man den hohen Energiekosten Einhalt gebieten konnte, schienen
solche Fragen hier keine Bedeutung zu haben.
Leise Musik drang aus unsichtbaren Lautsprechern.
Überhaupt schienen die Gäste sehr sorglos gewirtschaftet zu haben. Auch die
Unterwasserbeleuchtung war noch eingeschaltet.
Sie umrundete das Becken. Ihre Spuren auf dem weißen
Carraramarmor würde sie bei der Reinigung des Atriums beseitigen. Sie
überlegte, wie es wohl wäre, in einem solchen Bad zu schwimmen, unbehelligt von
anderen Badegästen. Im Unterbewusstsein nahm sie das Paket wahr, das auf dem
Boden des Beckens schwamm. Sie sah genau hin – und erschrak. Instinktiv hielt
sie beide Hände vor den weit geöffneten Mund und starrte auf die unbewegte
Wasserfläche, von der ein leichter Chlorgeruch ausging. Dann rieb sie sich die
Augen, fuhr sich mit den gespreizten Fingern der linken Hand durchs Haar, um
anschließend die Hände an die Wangen zu legen. Dabei sah sie wie gebannt in den
Pool. Nein! Es war keine Täuschung. Auf dem Grund schwamm ein Mensch. Ein
merkwürdiger Frieden ging von ihm aus. Unbeweglich, durch das Wasser verzerrt
und vergrößert, ruhte der Mann auf dem Grund. Imke Feddersen hatte ihn noch nie
gesehen. Sie sah noch einmal hin. Während der Kopf des Mannes auf dem Grund des
Beckens lag, streckte sich sein Oberkörper schräg zur Wasseroberfläche. Das
Gesäß bildete den höchsten Punkt, während die Beine wieder ein wenig nach unten
sackten.
Es dauerte ein paar Sekunden, die Imke Feddersen wie
eine Ewigkeit erschienen. Dann drehte sie sich um und ging mit raschen
Schritten ins Wohnzimmer. Mit zittrigen Fingern griff sie zum Telefon und
wählte die ihr bekannte Kurzwahl. Es ertönte nur das Freizeichen. Niemand hob
am anderen Ende der Leitung ab. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf der
Sessellehne und sah dabei immer wieder ängstlich über die Schulter Richtung
Swimmingpool. Doch nichts rührte sich im Haus. Bis auf die leise Musik war es
totenstill.
Nun mach schon, sagte sie zu sich selbst und sah auf
die Armbanduhr. Wahrscheinlich war es noch zu früh. Zu dieser Stunde, um halb
acht, war noch niemand im Frankfurter Büro, der einzigen Kontaktadresse ihres
Arbeitgebers. Sie legte auf und versuchte es erneut. Aber auch dieses Mal nahm
niemand ab.
»Was tu ich nur?«, sagte sie halblaut und wiederholte
diesen Satz mehrfach. Sie war aufgestanden und unruhig im Zimmer auf und ab
gelaufen. Schließlich ließ sie sich wieder in den Sessel fallen und wählte die
Eins-Eins-Zwei.
»Rettungsleitstelle«, meldete sich eine beruhigend
klingende Männerstimme.
Sie erinnerte sich, davon gehört zu haben, dass man im
Norden die »Feuerwehr«, wie der Laie es auszudrücken pflegte, zusammengelegt
und in Flensburg konzentriert hatte.
»Ja – hier – also … im Schwimmbecken, da liegt ein
Toter.«
»Nennen Sie mir bitte Name und Anschrift«, bat der
Mann aus der Leitstelle.
»Feddersen. Kurhausstraße in Kampen.«
»Auf Sylt?«
»Ja. Wo sonst?«
»Sie sind die Hausbesitzerin?«
»Nein, die Putzfrau.«
»Wie lautet der Name des Eigentümers?«
»Der steht nicht dran. Nur die Nummer.«
»Ist noch jemand bei Ihnen?«
»Nee, ich bin allein.«
»Ist der Verunglückte eben ins Wasser gestürzt?«
»Nee. Keine Ahnung. Der ist tot. Was weiß ich, wann
der ertrunken ist.«
»Warten Sie bitte. Ich schicke Ihnen Hilfe.«
Sie warf noch einen scheuen Blick in Richtung Atrium,
dann sprang sie plötzlich auf, lief zur Waschküche, riss ihre Jacke vom Haken
und stürzte aus dem Haus.
Dort, vor dem Friesenwall, der das Grundstück
begrenzte, fanden sie die beiden Rettungsassistenten des alarmierten
Rettungswagens.
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