Der Tote vom Kliff
erklärte Dr. Hundegger. »Er bedeutet: ›Vorsicht. Da ist ein
unkontrollierter Ball unterwegs.‹«
Ein älterer Golfer schwang seinen Schläger in einer
Art Drohgebärde gegen eine füllige Frau, die erschrocken auf der Driving Range
verharrte.
»Ich wollte doch nur meinen Ball wiederholen«, sagte
sie in jammervollem Ton. »Ich habe ihn unglücklich getroffen. Da ist er doch
nur fünf Meter weit geflogen.«
Sie schenkten dem Disput keine weitere Aufmerksamkeit
und folgten Dr. Hundegger auf die Terrasse des Clubhauses. Strandkörbe und
gemütliche Korbmöbel luden hier, am neunzehnten Loch, wie ambitionierte Golfer
das Clubhaus gern nennen, zum Verweilen ein.
Der Unternehmer steuerte einen abseits gelegenen Tisch
an und setzte sich.
»Mord, sagten Sie?«, fragte er ungläubig.
Lüder nickte. »Sie haben von der Ermordung Lew
Gruenzweigs hier auf Sylt gehört?«
»Das ging durch alle Medien.«
»In diesem Zusammenhang interessieren uns Ihre
Verbindungen zu dem Toten.«
Dr. Hundegger zwinkerte, dann besah er sich die
tadellos manikürten schlanken Finger. »Welche meinen Sie? Ich habe keine
Kontakte zu Gruenzweig.«
»Wir wissen um Ihre Aktivitäten, dass Sie
Hundegger-Industries und auch das Stahlwerk in Dortmund verkaufen möchten.«
Der Unternehmer sah Lüder lange an. Es war das Ritual
des Messens der Willenskraft. Lüder kostete es Anstrengungen, nicht die Lider
zu bewegen. Schließlich senkte Dr. Hundegger den Blick.
»Da gibt es keine Zusammenhänge. Und mit Lew
Gruenzweig habe ich zu keinem Zeitpunkt gesprochen.«
»Vielleicht nicht persönlich, aber Ihr Berater, Dr.
Buurhove.«
Jetzt verriet der Unternehmer durch ein Zucken der
Gesichtsmuskeln, dass er mehr als überrascht war.
»Woher haben Sie diese … äh … Information?«
Lüder unterdrückte ein Schmunzeln und sah kurz Große
Jäger an, bevor er dessen Lieblingszitat in solchen Situationen aussprach. »Wir
sind die Polizei.«
Lüder ließ Hundegger einen Augenblick Zeit, das
Gehörte zuzuordnen. Dann fuhr er fort: »Im Zusammenhang mit der Ermordung des
Amerikaners sind wir auf den Betriebsratsvorsitzenden Ihrer Neumünsteraner
Dependance gestoßen. Leider hat Hubert Fixemer Selbstmord begangen, bevor wir
ihn befragen konnten. Ferner hält sich der Vorsitzende des Betriebsrats Ihres
Stahlwerks ebenfalls auf Sylt auf. Beide haben mit Ihnen gesprochen. Und
schließlich die Verbindung zu Dr. Buurhove, über dessen Wirkungskreis wir
ausführlich informiert sind. Wir sollten uns nicht gegenseitig die Zeit
stehlen. Um was geht es?«
»Das sind Zufälle, die Ihnen merkwürdig erscheinen
mögen.«
»Ich zeige Ihnen unsere nächste Trumpfkarte«, sagte
Lüder eine Spur schärfer. »Hundegger-Industries soll verkauft werden.«
Obwohl sie sich eine windgeschützte Ecke auf der
Terrasse gesucht hatten, war es noch merklich kühl um diese Jahreszeit, und
wenn die Sonne wieder einmal durch vorbeiziehende Wolkenfelder verdeckt war,
spürte man die Kühle. Es lag aber sicher nicht nur an den Temperaturen, dass
Dr. Hundegger zu frösteln schien. Es wirkte wie eine Schutzmaßnahme, als er die
Hände um den Oberkörper schlang. Dankbar sah er die Bedienung an, die nach
ihren Wünschen fragte und darauf hinwies, dass auch im Hause gedeckt sei.
Lüder orderte ein Kännchen Kaffee, der Unternehmer
bestellte einen Campari mit frisch gepresstem Orangensaft, und Große Jäger
hatte gar nicht erst in die Karte gesehen. »Einen Pharisäer.«
Dr. Gisbert Hundegger gab sich einen Ruck. »Ich habe
von Fixemers Freitod gehört. Ich kannte den Mann. Es ist tragisch für seine
Familie, dass er diesen Weg gewählt hat und sich vor der Verantwortung
davonstiehlt.«
»Vor welcher Verantwortung?«, fragte Lüder.
»Der des Lebens. Ich fühle mit der Familie, die nichts
dafür kann, dass der Mann und Vater in entscheidenden Augenblicken nicht
stressfest war.«
»Das klingt sehr zynisch«, warf Lüder ein.
»Schließlich hat Hubert Fixemer nicht nur für sich, sondern auch für die
anderen Mitarbeiter gekämpft.«
Dr. Hundegger legte die Fingerspitzen wie zu einem
Dach zusammen. »Es gibt Dinge, die uns aufgezwungen werden. Wir alle müssen in
einer sich immer schneller drehenden Welt mit Veränderungen leben. Von jedem
ist Flexibilität gefragt. Und wer damit nicht umgehen kann – schade um jedes
Individuum.«
»Ist das nicht ein menschenverachtender Gedanke?«,
fragte Lüder.
»Ist es Aufgabe der Polizei, ethische und moralische
Grundsätze zu
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