Der Tote vom Kliff
achten, dass sich keine gewaltbereiten Aktivisten aufmachten,
um durch Einsatz von Gewalt »die Fronten« zu klären.
Heute hatte Lüder frei. Dieser Tag war lange geplant,
und selbst durch die in großer Aufmachung in den Medien ausgewalzten jüngsten
Ereignisse auf Sylt ließ er sich nicht davon abbringen, diesen Tag zu begehen.
Die Zeremonie war würdig gewesen. Lüder hatte es sich
so vorgestellt, und auch die anwesenden Gäste schienen dem Ereignis angemessen
gestimmt.
Sein Vater, im etwas altmodischen dunklen Anzug,
strahlte und hatte Lüder mehrfach in den Arm genommen. »Ich freue mich mit dir,
mein Kleiner«, hatte der alte Lüders gesagt und dabei zu seinem einen Kopf
größeren Sohn aufgesehen, während seine Frau sich bei Margit untergehakt hatte.
In ihrem bunt geblümten Kleid und der über den Arm gehängten altmodischen
Handtasche erinnerte Lüders Mutter ein wenig an ein Mitglied des englischen
Königshauses. Der gestrige Friseurbesuch und ihre rundlich-gemütliche Figur
trugen das Ihre dazu bei. Das galt auch für Frau Mönckhagen. Margit hatte
darauf bestanden, die Nachbarin einzuladen. »Dann müssen wir es niemand anderem
in der Straße erzählen«, hatte sie den Vorschlag lachend begründet.
Frau Mönckhagen ging mit kurzen Trippelschritten neben
Lüders Freund Horst Schönberg her, der in Begleitung einer drallen Blonden
erschienen war, die Lüder nicht kannte und die Horst großzügig als seine
»Lebenspartnerin« vorstellte. Hätte das Ereignis eine Woche früher
stattgefunden, wäre die »Lebenspartnerin« vermutlich eine schlanke Rothaarige
gewesen. Horst war und blieb ein liebenswürdiger Lebenskünstler.
Leider fehlten Margits Mutter und deren
Lebensgefährte, die einen Langzeiturlaub auf einer spanischen Atlantikinsel
absolvierten. Verwundert war Lüder auch über das Fernbleiben von Jochen
Nathusius und dessen Frau, die er eingeladen hatte. Der Kriminaldirektor war,
ohne sich gemeldet zu haben, nicht gekommen. Diese Verhaltensweise kannte Lüder
nicht von Nathusius. Sie irritierte ihn.
Margit hatte sich von Lüders Mutter befreien können
und an seine Seite gedrängt. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und
zwängte ihren Arm durch seine Armbeuge. Dann hielt sie ihn fest und drückte ihn
heftig.
»Man muss nur beharrlich genug sein«, raunte sie ihm
zu und lächelte dabei glücklich.
Er spitzte die Lippen. »Ich weiß nicht, was du
meinst«, erwiderte er mit spöttischem Unterton. Dann nahm er sie in den Arm.
»Ohne dich, mein Schatz, würden wir hier nicht stehen. Habe ich dir schon
gesagt, dass ich dich liebe?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, dass ihre Haare
heftig hin und her flogen. Dabei lachte sie herzlich. »Nein. Das hast du mir
noch nie gesagt.«
Er drückte sie noch einmal an sich. »Du bist die
bezauberndste Schwindlerin, die ich kenne. Dich möchte ich ins Kreuzverhör
nehmen.«
»Wie wär’s heute Abend, wenn wir allein sind?« Sie
ließ erneut ihr herzliches Lachen hören und wurde durch Jonas abgelenkt. Es
hatte Überwindung gekostet, bis Jonas in die graue Hose und das altersgerechte
Sakko geschlüpft war. Aber nach dem weißen Hemd war Jonas lautstark in den
Streik getreten und hatte sich im Unterschied zu Lüder geweigert, eine Krawatte
anzulegen.
Während des Zeremoniells war er so aufgeregt gewesen,
dass er sich fortwährend Schokolade in den Mund geschoben hatte. Thorolf hatte
ihm daraufhin ein wenig zu heftig auf den Rücken geklopft und zugeraunt, er
solle das unterlassen. Dabei war Jonas die aufgeweichte Schokolade aus dem
übervollen Mund gefallen, und ein großer brauner Fleck zierte das weiße Hemd.
Selbst die ruhige Viveka hatte sich eingemischt, als Jonas in die andächtige
Stille der Veranstaltung hinein Thorolf einen »blöden Trottel« schalt.
Der Jüngsten, Sinje, war der Trubel ein wenig
unheimlich geworden, und sie hatte Zuflucht auf dem Arm ihres Vaters gesucht.
Und als der durch die Prozedur abgelenkt war, fand Sinje auf Opas Schoß den
zweitbesten Platz.
»Muss das bei uns immer so lebhaft zugehen?«, hatte
Margit leise gefragt.
»Es wäre schade, wenn es anders wäre«, hatte Lüder
geantwortet. »So sind wir eben.«
Nun stand die kleine Gruppe ein wenig unentschlossen
auf der Straße.
»Geht’s jetzt zum Essen?«, fragte Jonas. »Gibt’s da
auch Schnitzel und Pommes? Oder nur so ‘n Erwachsenscheiß.«
»Jonas. Das sagt man nicht«, belehrte ihn Margit.
Vater Lüders fuhr seinem Enkel durch die verwuschelten Haare.
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