Der Tote vom Kliff
Landeskriminalamt siebenmal zu erreichen versucht hatte.
Zwei weitere Anrufe stammten von Große Jäger.
Trotzdem versuchte er zunächst, Kriminaldirektor
Nathusius auf dessen Handy zu erreichen. Es meldete sich lediglich die Mailbox.
Dann wählte er den Direktanschluss im Amt an und war nicht überrascht, dass
sich Edith Beyer meldete.
»Herr Lüders. Gut, dass Sie anrufen. Sie glauben
nicht, was hier los ist.«
»Ich habe heute einen lange geplanten Urlaubstag für
unaufschiebbare private Dinge genommen«, sagte er.
»Ich weiß, Herr Lüders. Aber hier ist der Teufel los.
Ich fürchte, Sie müssen unbedingt reinkommen.«
»Miss Beyerpenny, warum so aufgeregt? So kenne ich Sie
gar nicht.«
»Ich würde ja lieber ›James‹ zu Ihnen sagen, aber
selbst die Leitung hat schon nach Ihnen gefragt.«
»Die lange Leitung?«
»Entschuldigung, Herr Lüders, aber mir steht wirklich
nicht der Sinn nach Heiterem. Sie sollen sich umgehend mit dem Leiter des LKA in Verbindung setzen.«
»Und Herr Nathusius?«
»Bitte. Ich kann nichts sagen.« Beim letzten Satz
hatte Edith Beyer die Stimme gesenkt, als würde sie ihm etwas sehr
Vertrauliches berichten.
»Schön«, seufzte Lüder. »Ich komme umgehend.«
Als er an den Tisch zur kleinen Gesellschaft
zurückkehrte, wurde er mit vielen fragenden Blicken empfangen.
»Setz dich, mein Kleiner«, sagte Vater Lüders.
»Hast du neuen Champagner bestellt?«, rief ihm Horst
Schönberg entgegen. »Hoffentlich genug, damit wir noch ein paar Heuschrecken
ertränken können.«
Nur Margit hatte ihm angesehen, dass er seine
ungezwungene Heiterkeit verloren hatte.
»Nein!«, sagte sie mit Entschiedenheit in der Stimme,
die alle anderen aufhorchen ließ.
»Es tut mir sehr leid«, versuchte Lüder einen
schwachen Erklärungsversuch, »aber es ist extrem wichtig.«
Jonas strahlte und schob seinen Stuhl zurück. »Geil.
Eine neue Leiche? Darf ich mit?«
Sein Sohn war genauso enttäuscht wie der Rest der
Gesellschaft, als Lüder sich auf den Weg zum Landeskriminalamt machte.
Er suchte direkt das Büro des Kriminaldirektors auf
und musste sich unterwegs der Frotzelei eines Kollegen erwehren, der auf Lüders
ungewöhnliches Outfit mit dem dunklen Anzug, dem weißen Hemd und der dezenten
Krawatte anspielte.
»Wurde der Kleinkredit genehmigt?«, hatte der Kollege
gefragt und in Lüder sofort die Erinnerung an die gegen ihn verhängte
Kontensperre geweckt.
Die Tür zu Nathusius’ Büro war geschlossen. Lüder
klopfte pro forma an und stürmte in den Raum des Leiters des Polizeilichen
Staatsschutzes.
Ein Mann schreckte hoch und sah ihn überrascht an.
Lüder war genauso erstaunt. Was suchte der Fremde am Schreibtisch des
Kriminaldirektors? Sein Alter war schlecht einzuschätzen. Lüder vermutete, die
gepflegte Erscheinung mochte um die vierzig sein. Ein dunkler Blazer, das
blütenweiße Hemd und die Clubkrawatte passten hervorragend zum gebräunten Teint
des Mannes. Die dunkelblonden längeren Haare lagen elegant über den Ohren.
Lüder wurde aus dunkelbraunen Augen eingehend taxiert. Dann erhob sich der Mann
und streckte Lüder eine manikürte Hand entgegen.
»Ich nehme an, Herr Lüders. Mein Name ist Starke.«
Lüder erwiderte den Händedruck, der im Gegensatz zur
äußeren Erscheinung des Mannes zu lasch war.
»Ich suche Herrn Nathusius«, sagte Lüder und
ignorierte die Geste, die auf den Besucherstuhl wies.
»Nehmen Sie bitte Platz.«
Nachdem Lüder sich gesetzt hatte, stützte Starke die
Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und legte die Fingerspitzen
gegeneinander.
»Es wird Sie überraschen, mich an diesem Platz zu
finden. Mein Name ist Dr. Starke. Ich bin ebenfalls wie Herr Nathusius
Kriminaldirektor und leite seit heute diese Abteilung.«
»Wie bitte? Aber wo ist Herr Nathusius?«
Dr. Starke lächelte. Auf Lüder wirkte es gekünstelt.
»Zunächst einmal: Ich bin jetzt zuständig. Mehr gibt
es im Moment nicht zu erklären.«
Lüder starrte den Fremden am Schreibtisch seines
Vorgesetzten an. Was war geschehen? Wo war Jochen Nathusius abgeblieben?
Dr. Starke. Das konnte nur der Leiter der Flensburger
Bezirkskriminalinspektion sein, Frauke Dobermanns ehemaliger Chef, von dem
gemunkelt wurde, dass er wesentlichen Anteil an der überraschenden
Strafversetzung der Hauptkommissarin nach Hannover hatte. Und selbst wenn man
Große Jägers mit offenem Herzen vorgetragene Einschätzungen mit Vorsicht
betrachtete, fragte sich Lüder, warum der Husumer immer vom
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