Der Tote vom Maschsee
wunderbaren alten Baumbestand. Die Inschriften der Grabmäler
und Gruften lesen sich wie ein Who is Who der
berühmten Söhne und Töchter der Stadt. Am Grab des Malers Kurt Schwitters
grübelt Völxen über der schelmischen Inschrift Man kann ja
nie wissen . Offenbar ein Mann mit Humor â Dadaist, wenn Völxen sich
richtig erinnert.
Als die Tür der Kapelle geöffnet wird und die Menge wie eine Herde
schwarzer Schafe ins Freie strömt, wartet er geduldig in einigem Abstand.
Liliane Fender kommt erwartungsgemäà mit den letzten Personen heraus. Ihr
schwarzes, knielanges Kleid hat einen für eine Trauerfeier gerade noch
vertretbaren Ausschnitt, ihr Haar ist hochgesteckt, sie sieht sehr elegant aus.
In Ermangelung naher Angehöriger Offermanns ist sie es, der man kondoliert.
Nachdem sie sich von den letzten Trauergästen verabschiedet hat,
spricht Völxen sie an. Sie scheint nicht überrascht zu sein, ihn hier zu sehen.
Ihre Augen sind ein wenig gerötet.
»Gehen wir ein paar Schritte?«, schlägt er vor.
»Warum nicht?«, sagt sie. »Mögen Sie auch Friedhöfe?«
»Ja, sehr.« Völxen mag Friedhöfe wirklich. Die Ruhe, die Vegetation,
die weltentrückte Stimmung, die dort herrscht. Auf Friedhöfen kommt es ihm
jedes Mal vor, als stünde die Zeit still. Für die meisten dort tut sie das ja
auch.
Nach ein paar Metern, die sie schweigend zurückgelegt haben, beginnt
der Kommissar: »Waren Sie schon bei Herrn Strauch?«
»Nein, ich war noch nicht bei ihm.«
»Warum nicht?«
»Ich möchte mich erst gründlich vorbereiten. Ende der Woche werde
ich wohl ein erstes Gespräch mit ihm führen.«
»Haben Sie Angst davor?«, fragt er.
»Wie kommen Sie denn darauf?« Sie unterstreicht ihr Befremden über
die Frage mit einem Stirnrunzeln.
»Könnte ja sein, dass Sie ihm schon einmal begegnet sind«, meint
Völxen.
»Wo denn? Im Knast?«
»Nein früher. Er hat mal in Gehrden gewohnt, ihrem Heimatort.
Wussten Sie das?«
Sie sieht Völxen von der Seite an. Leicht spöttisch, wie es ihm
scheint. »Ich habe es auf dem Band gehört. Vorher wusste ich nichts davon. Aber
es war wohl nur ein halbes Jahr. Gehrden ist zwar eine Kleinstadt, aber so
klein auch wieder nicht, dass man jeden kennt.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer Ihnen die Zunge geschickt haben könnte?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich weià es nicht.«
»Welche Symbolik steckt dahinter, was meinen Sie?«
»Keine Ahnung.«
Völxen erprobt seinen Dackelblick. »Ich bitte Sie! Sie sind Psychiaterin,
Sie müssen sich doch Gedanken gemacht haben, welche Botschaft Ihnen der
Absender der Zunge auf diese Weise übermitteln will.«
»Vielleicht eine Warnung. Aber ich weià beim besten Willen nicht,
wovor.«
»Denken Sie nicht auch, dass es etwas mit Michael Strauch zu tun
haben könnte? Immerhin sind Sie jetzt seine Gutachterin.«
»Ich weià das selbst erst seit Freitag, und ich habe mit niemandem
darüber gesprochen. AuÃer mit Kommissar Rodriguez. Der wusste das allerdings
schon.«
Das ist ein berechtigter Einwand, erkennt Völxen. HeiÃt das, dass
die Täterin Kontakte zur Strafkammer oder zur Staatsanwaltschaft unterhält?
Oder hat Dr. Fenders Gutachterauftrag gar nichts mit den Morden zu tun? Das
träfe dann auch auf Offermanns Arbeit als Gutachter zu, und dann wäre die Spur,
die zu Michael Strauch führt, eine Sackgasse.
»Und was hatte Frau Dilling denn mit Strauch zu tun?«, gibt Dr.
Fender zu bedenken.
»Sie hat gegen seine Freilassung opponiert«, antwortet Völxen.
»Sie meinen, der Täter möchte Strauch gerne in Freiheit sehen? Wer
sollte sich so etwas wünschen? Seine Verlobte? Ist sie so naiv zu glauben,
diese Morde könnten Strauch nützen?«
Nein, denkt Völxen. AuÃerdem ist Irma Kissinger am Samstag pünktlich
um neun Uhr an ihrem Arbeitsplatz erschienen, das hat Oda inzwischen
recherchiert.
»Soviel ich weiÃ, hat der Mann keine Freunde. Nicht einmal seine
Mutter möchte etwas mit ihm zu tun haben«, fügt Liliane Fender hinzu.
»Halten Sie es für möglich, dass es ein früheres Opfer von Strauch
gibt, von dem wir noch nichts wissen?«, fragt Völxen.
Liliane Fender ist stehen geblieben. Sie betrachtet nachdenklich
einen der gusseisernen Bödecker-Engel, dann wendet sie sich
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