Der Tote vom Maschsee
angekommen. Ein Flugzeug malt einen
Kondensstreifen in den blassblauen Himmel.
»Gab es eigentlich schon mal Pannen?«, fragt Fernando.
»Wie meinen Sie das?«
»Wurde einer rückfällig, den er als harmlos eingestuft hat?«
»Nein, bis jetzt nicht. Aber ein Gutachter, der halbwegs bei Sinnen
ist, wird einen Probanden niemals als hundertprozentig ungefährlich
beschreiben. Schon gar nicht, wenn es um Sexualdelikte geht. Man zeigt nur eine
positive oder negative Tendenz künftigen Verhaltens an. Den schwarzen Peter hat
nach wie vor der Richter.«
»Finden, Sie, dass Offermann ein guter Psychiater war?«
»Hätte ich sonst mit ihm zusammengearbeitet?«
»Das heiÃt ja nicht, dass Sie alles toll fanden, was er gemacht
hat.«
»Es steht mir nicht zu, Kritik zu üben.«
»Ich werde es schon nicht rausposaunen.« Fernando setzt sein
charmantestes Lächeln auf, was ihm nicht sonderlich schwerfällt, denn so ganz
in Schwarz sieht Dr. Liliane Fender auf eine dramatische Weise anziehend aus.
Sie trägt eine Bluse mit langen, weiten Ãrmeln, die den Ansatz ihres Busens
offeriert: sanft schimmerndes Elfenbein. Der enge Rock reicht bis über die
Knie, ist jedoch auf der Rückseite groÃzügig geschlitzt. Mit ihren hohen Pumps
ist sie sogar ein winziges Stück gröÃer als Fernando, der seine KörpergröÃe mit
eins achtzig anzugeben pflegt, wobei die letzten fünf Zentimeter Legende sind.
»Das Thema Gerichtsgutachten ist diffizil. Die
Gefährlichkeitsprognose ist eine ausgesprochen komplexe Aufgabe, die vom
Gutachter eine hohe Kompetenz und vielfältige Kenntnisse verlangt.«
»Und hatte Offermann diese Kompetenzen?«
Sie holt tief Atem. »Wissen Sie, Herr Rodriguez, die Disziplin der
forensischen Psychiatrie ist in Deutschland jahrzehntelang fast ohne Forschung
ausgekommen. Bis vor etwa fünfzehn Jahren haben die Gutachter zwar Menschen
eingeordnet in schuldfähig oder nicht, krank oder gesund, gefährlich oder
harmlos â aber es gab keine Erhebungen, die diese Schätzungen belegen konnten.
Erst während der letzten Jahre wurden wissenschaftlich fundierte
Prognoseinstrumente entwickelt, die sowohl statistische als auch empirisch
gewonnene Daten berücksichtigen. Für ein sorgfältiges Gutachten braucht man
viel Zeit. Und es gibt noch immer nicht das Prognoseverfahren, das allen Anforderungen gerecht würde.«
»Lassen Sie mich raten: Dr. Offermann war einer vom alten Schlag und
hielt nicht allzu viel von solchen neumodischen Kinkerlitzchen?« Na also, es
geht doch: Sie lächelt. Zähne wie Perlen.
»Im Grunde war er der Ãberzeugung, dass er aufgrund seiner
langjährigen Praxis auf methodische Herangehensweisen verzichten konnte. Wobei
man allerdings die Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie tatsächlich nicht
unterschätzen darf.«
Fernando weiÃ, was sie meint. Solche Typen gibt es auch bei ihnen:
Leute, die die Fortschritte der Kriminaltechnik und der Informationstechnologie
misstrauisch beäugen und sich lieber auf ihre Erfahrung und ihre Instinkte
verlassen. Und auch noch triumphieren, wenn sie damit durchkommen.
Sie bleibt stehen, nimmt eine Sonnenbrille aus der Handtasche und
lässt ihre Augen verschwinden. Ihre Lippen erinnern an reife Kirschen.
»Gibt es denn keine gesetzlichen Mindeststandards für solche
Gutachten?«, fragt Fernando.
»Nein. Es wird von den Gerichten zwar allgemein erwartet, dass eine
Expertise auch wissenschaftlich fundiert ist, und sie soll nachvollziehbar und
transparent sein. Aber im Gesetzestext finden Sie keine Regelung darüber, wer
vor Gericht als Gutachter auftreten darf. In der Praxis sind es Psychiater und
Psychologen, aber theoretisch kann ein Richter auch einen Wahrsager mit der
Prognose beauftragen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, staunt Fernando.
»Doch. Leider müssen nicht einmal bei Sexualstraftaten die Gutachter
zwingend ausgewiesene Spezialisten für Sexualstraftaten sein. Da tummeln sich
allerhand Pseudoexperten, die vor langer Zeit mal studiert, aber sich auf dem
Gebiet nie weitergebildet haben und dennoch Gutachten wie am FlieÃband
produzieren. Denn die Nachfrage steigt permanent.«
»Demnach ist es nur dem Zufall zu verdanken, wenn nichts Schlimmes
geschieht?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Manchmal schon. Aber auch wenn ein
gewissenhafter Experte hinzugezogen wird, gibt
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