Der Tote vom Maschsee
aus
der ersten Reihe.
Dr. Fender antwortet ruhig: »Ein Täter kann sich des Unrechts seiner
Tat bewusst sein, aber dennoch unfähig sein, seinen Neigungen zu widerstehen.
Dieser Unterschied ist bei Straftätern inzwischen hirnanatomisch und
neurophysiologisch bestätigt.«
»Sie wollen damit also sagen, dass einer, der Frauen auf sadistische
Weise zu Tode quält, oder einer, der jahrelang Kinder missbraucht, für sein
Verhalten nicht verantwortlich zu machen ist?«, kreischt die rothaarige
Walküre.
Liliane Fender antwortet sachlich: »In der Tat spricht die moderne
Hirnforschung von einem Schuldparadoxon: Je verabscheuungswürdiger eine Tat
ist, desto klarer tritt der neurologisch-psychische Determinismus hervor. Dem
stehen freilich unser traditioneller Schuldbegriff und das allgemeine
Rechtsbewusstsein entgegen, das den Begriff der Schuld eng mit Rache- und
Sühnegedanken verbindet. So wie man früher ja auch glaubte, Krankheit und
Schicksalsschläge seien Folgen persönlicher Schuld.«
Auch Irene Dilling ist nun sichtlich aufgebracht: »Bei allem
Respekt, Frau Dr. Fender, aber diese Auffassung ist ein Schlag ins Gesicht der
Opfer und deren Angehöriger.«
»Frau Dilling, Sie haben mich nach dem aktuellen Stand der
Hirnforschung gefragt. Die Forschung bezieht keine Stellung, sie sucht nur nach
Ursachen. Wenn Sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen â ich glaube
nicht, dass die Wissenschaft auf alles eine Antwort hat. Wir erleben uns selbst
subjektiv als Herr unseres Willens. Das ist, wenn Sie so wollen, das Göttliche
in uns.«
Frau Dilling nickt andächtig, und Dr. Fender fährt fort: »Wie die
Gesellschaft und das Strafrecht mit den Ergebnissen der Forschung umgehen, das
steht auf einem anderen Blatt. Niemand verlangt ernsthaft, dass gefährliche
Straftäter frei herumlaufen sollen. Was unsere Gesellschaft jedoch am nötigsten
braucht, ist Prävention und Therapie, nicht Schuld und Sühne.« Dr. Fender
klappt demonstrativ ihr Laptop zu und lächelt an Irene Dilling vorbei ins
Publikum. Noch einmal gibt es Applaus.
Gerade noch mal die Kurve gekriegt, denkt Oda anerkennend.
Auch Irene Dilling hat sich wieder beruhigt. Sie verabschiedet die
Besucher, weist noch auf die nächsten Termine von Pro victim hin und gibt zum Abschluss die Kampfparole aus: »Nicht schweigen und leiden,
sondern reden und handeln!«
Der Raum leert sich, auch die lockige junge Frau in Odas Reihe steht
auf. Oda erhebt sich ebenfalls und fragt: »Wie hat Ihnen der Vortrag gefallen?«
»Ganz gut«, flüstert die Frau und schiebt sich an Oda vorbei. Sie
verströmt einen seltsamen Geruch. Nach Tier. Pferd? Eine Reiterin? Nein, Pferde
riechen anders, das weià sie noch aus Veronikas Pferdephase.
Dr. Fender, Irene Dilling und die aufgebrachte Bordeauxrote stehen
beieinander und diskutieren noch immer. Oda pirscht sich heran.
»â¦Â Ihre Organisation leistet hervorragende Arbeit im Hinblick auf
Prävention, weil Sie das Bewusstsein der Menschen für die Kinder in ihrer
Umgebung schärfen. Weniger Missbrauch bedeutet weniger Gewalt in der nächsten
Generation«, sagt Dr. Fender gerade.
Aha, da will jemand Scherben kitten. Oda betrachtet die Mokassins
von Irene Dilling. Sie hatte insgeheim auf extrem kleine oder groÃe FüÃe
gehofft, aber natürlich kommt für Irene Dilling die neununddreiÃig durchaus in
Frage.
Oda muss dringend auf die Toilette und macht sich auf die Suche. Als
sie in der Kabine ist, hört sie drauÃen die Tür aufgehen.
»â¦Â fand ich besser als den Offermann«, sagt eine Frauenstimme.
»Mhm«, antwortet eine zweite.
»Dass sie gar nichts über den Mord gesagt hat.«
»Was hätte sie denn sagen sollen?«
»Weià ich auch nicht. Irgendwas halt. Hätte doch zum Thema gepasst.
Er war doch schlieÃlich ihr Kompagnon oder so ähnlich.«
Neben Oda wird die Tür abgeschlossen, man hört es plätschern.
Oda verlässt ihre Kabine. Eine Frau, ungefähr ihr Alter, mit einem
blonden Kurzhaarschnitt schenkt Oda ein flüchtig-höfliches Lächeln, ehe sie in
der frei gewordenen Toilette verschwindet.
Die Gespräche sind verstummt. Oda beschäftigt sich so lange am
Waschbecken, bis auch die andere Frau herauskommt. Es ist die, die neben ihr
gesessen hat. Sie ist Anfang dreiÃig und trägt spitz zulaufende
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