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Der Tote vom Maschsee

Der Tote vom Maschsee

Titel: Der Tote vom Maschsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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kühlen Fingerspitzen berühren seinen Unterarm. »Er ist mein
Nachbar, ich kenne ihn erst seit einer Viertelstunde. Spiel nicht das scheue
Reh.« Sie lächelt ihn an, er grinst verlegen zurück und folgt ihr hinein.
    Jule setzt Nudelwasser auf. Im Stillen tadelt sie sich für ihre
Ängstlichkeit von vorhin, im Treppenhaus. Eine Polizistin, die noch dazu den
braunen Gürtel in Karate hat, fürchtet sich vor einem Schatten an der Wand!
    Fernando öffnet die Weinflasche und schält eine Knoblauchzehe. »Hast
du eine Knoblauchpresse?«, fragt er.
    Â»Eine Presse ist was für Barbaren.«
    Â»Sagt wer?«
    Es klopft an der Wohnungstür.
    Â»Komm rein, die Tür ist offen«, ruft Jule, und Thomas betritt die
Küche mit den Worten: »Schau mal, ich hab uns zum Nachtisch was vom feinsten
schwarzen …« Seine Hand fährt rasch in seine Hosentasche.
    Â»Das ist Fernando Rodriguez. Mein Kollege …« Jule hält inne.
Verdammt. Sie hat versäumt, Fernando in ihre kleine Schwindelei einzuweihen,
aber das ist nicht das Schlimmste. Vielmehr beunruhigt sie der Gedanke, dass
Fernando ja früher bei der Drogenfahndung war.
    Â»Hallo!«
    Â»Hi. Ich bin Thomas.«
    Die beiden mustern einander wie zwei Rüden, dann sagt Thomas: »Du
bist also auch bei dieser … wo war es noch gleich?«
    Â»Beim Landesrechnungshof«, schreit Jule.
    Â»Nein, ich bin nicht beim Landesrechnungshof«, sagt Fernando, was
Jule mit einem genervten Wimpernschlag quittiert. Ein kleines bisschen
Flexibilität ist offenbar zu viel erwartet. Im nächsten Moment wird ihr
unangenehm heiß, denn Fernando deutet auf Thomas’ Hosentasche: »Lass doch mal
sehen, was du uns Schönes mitgebracht hast.«
    Â»Das menschliche Gehirn entwickelt sich aus neuronalen
Netzen. Im Gehirn entstehende Synapsen bekommen Impulse, um sich miteinander zu
verknüpfen und Bahnen zu bilden. Unsere Erfahrungen und Eindrücke verfestigen
sich zu derartigen Bahnen, die immer schwerer zu verändern sind. Diese zu
verlassen und neue Wege zu beschreiten, ist stets schwierig. Traumatisierten
Opfern gelingt es ohne Hilfe nur selten, das Trauma der Gewalterfahrung
loszulassen. Denn Veränderungen entstehen leider nicht durch Erkenntnis,
sondern einzig durch gefühlsmäßige Anreize. Emotionen, die einen so tief
berühren, dass sie den Wunsch nach Veränderung wecken. Nur durch sinnliche
Erfahrungen, die im Gehirn neue Strukturen bilden, können neue Handlungswege
beschritten, neue Handlungsmuster erlernt werden. Leider haben die modernen
wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung von Gewalt noch nicht auf
die Praxis des Strafvollzugs abgefärbt. Vermutlich besteht das System einfach
schon zu lange, und es mangelt an einer Lobby für die Inhaftierten.«
    Mutig, dieses Thema ausgerechnet hier anzusprechen, findet Oda,
während Dr. Fender ihre Schlussworte formuliert: »Der Mensch kann immer beides
sein: Täter und Opfer. Der Grat dazwischen ist extrem schmal.«
    Applaus.
    Neben Dr. Fender erscheint Irene Dilling, bedankt sich für den
Vortrag und versucht, eine Diskussion in Gang zu bringen. Oda reckt den Hals,
um Irene Dillings Schuhe ins Blickfeld zu bekommen, aber es klappt nicht.
    Da niemand etwas sagen will, fragt Frau Dilling: »Frau Dr. Fender,
in letzter Zeit hört man aus Kreisen der Hirnforschung immer wieder die
Theorie, dass der Mensch gar keinen freien Willen besitzt und deshalb
Straftäter letztendlich nicht schuld an ihrem Tun sind. Was halten Sie davon?«
    Dr. Fender scheint auf diese Frage vorbereitet zu sein, sie
antwortet ohne Zögern: »Das ist richtig. Der Mensch ist ein Produkt seiner
Gene, seiner Hirnentwicklung, der frühkindlichen Erfahrung und der späteren
Sozialisierung. Wenn hier genügend negative Faktoren zusammenkommen, dann
entstehen Motive, die den Täter zur Tat treiben. Um dann die sogenannte
Willenskraft aufzubringen, seinen Motiven nicht nachzugeben, bräuchte der
Mensch noch stärkere Motive, zum Beispiel Rechtsbewusstsein, welches aber in
seiner Persönlichkeit verankert sein muss. Ist es das nicht, hat er praktisch
keine Wahl.«
    Â»Das heißt, so ein Kinderschänder weiß zwar, was er tut, ist aber im
Grunde unschuldig?« Die Stimme der Frau, die diese Frage gestellt hat, zittert
vor Erregung. Es ist eine massige ältere Dame mit kurzen weinroten Haaren

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