Der Tote vom Maschsee
Verletzlichkeit. Man hat Angst, wo man früher keine hatte.
Nichts ist mehr wie vorher. Und das Schlimmste ist: Man gibt sich selbst die
Schuld an dem, was einem angetan wurde. Das geht manchmal bis hin zur
Idealisierung des Täters. Stockholm-Syndrom, wenn Ihnen das ein Begriff ist.«
»Das klingt, als hätten Sie es selbst erlebt«, bemerkt Fernando
vorsichtig. Sie nimmt die Hände vom Weinglas, sieht ihn an. »Ich? Nein. Nur
keine falschen Schlüsse, Herr Kommissar. Das ist meine Erfahrung als
Therapeutin.«
»Sind Sie glücklich damit?«
» Pizza quattro stagioni, pizza rustica, prego. «
Das Erscheinen des Kellners entbindet sie von der Antwort. Sie essen schweigend
und hungrig.
»Das tat gut. Das erste vernünftige Essen seit Tagen«, meint Liliane
Fender danach und schiebt mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck ihren leeren
Teller zurück. »Ich war die letzten Tage zu nichts fähig, schon gar nicht, mir
etwas zu kochen.«
»Ich lerne immer Frauen kennen, die nicht kochen können«, bedauert
Fernando.
»Legen Sie denn Wert darauf?«
Achtung, Fernando, böse Falle! Sag jetzt nichts Falsches. »Nein,
natürlich nicht.«
»Schade. Ich kann nämlich gut kochen.«
An dieser Stelle würde es sich anbieten, über seine Wohnsituation zu
reden, denn erfahrungsgemäà erhält die in seinen Augen belanglose Tatsache,
dass er mit seiner Mutter in einer Wohnung lebt, mit jedem Tag, an dem sie
verschwiegen wird, mehr Gewicht. Aber er möchte noch eine Weile normal
behandelt werden und nicht wie ein Abartiger oder Kranker, deshalb fragt er,
nachdem der Kellner die Teller abgeräumt hat: »Wie lange kennen Sie eigentlich
Irene Dilling schon?«
Liliane Fender seufzt. »Sie enttäuschen mich. Jetzt gibt es also
doch noch ein Verhör.«
»Nein, so dürfen Sie das nicht sehen. Es ist nur Neugierde.«
»Ich kenne sie seit drei Jahren. Irgendwann hörte ich von dieser
Gruppe und bin zu einem Treffen hingegangen. Seitdem halte ich dort etwa zwei
Mal im Jahr einen Vortrag. Das bringt mir ein gutes Gewissen und Patienten. Man
muss sehen, wo man bleibt.«
»Irene Dilling war eine Patientin von Dr. Offermann.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Das wusste ich nicht.«
»Schade«, meint Fernando. »Ich dachte, Sie könnten mir etwas darüber
erzählen.«
»Leider nein. Das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich bin seit
vier Jahren in der Praxis.«
»Meinen Sie, Sie könnten mal in alten Akten stöbern? Vielleicht
finden Sie sogar eine Aufzeichnung.«
»Ich finde allenfalls ein paar alte Rechnungen und Befunde. Man
zeichnet nicht jede Sitzung auf, nur Gespräche mit besonders interessanten
Patienten. Aber das sind nicht viele.«
»Solche wie Strauch.«
»Bei Häftlingen ist das etwas anderes.«
»Ist es wahr, dass Sie diesen Michael Strauch begutachten werden?«
Sie nickt. »Ja. Sie sind wirklich gut informiert, ich weià es selbst
erst seit heute Morgen.«
»Das ist mein Job«, sagt Fernando. »Tun Sie das gerne?«
»Was?«
»Sich mit Strauch beschäftigen.«
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, es macht mir bestimmt keine
Freude, das können Sie mir getrost glauben. Aber es ist einfach eine Chance,
die ich nicht verstreichen lassen darf.«
»Eine Chance worauf?«
Sie trinkt einen groÃen Schluck Wein.
Das Kerzenlicht veredelt den Porzellanschimmer ihrer Haut, ihre
Augen sind dunkel umschattet. Himmel, was für eine schöne Frau, durchzuckt es
Fernando.
Sie beugt sich ein wenig über den Tisch und flüstert: »Ich möchte
diesen ScheiÃkerl im Knast sehen, und zwar für immer. Und wenn ich irgendetwas
tun kann, damit es so kommt, dann werde ich die Gelegenheit nutzen.«
Fernando ist verblüfft über den plötzlich aufgeflammten Hass in ihrer
Stimme und ihrem Blick. Sollte ein Gutachter nicht neutral sein? Wo ist die
kühle, professionelle Dr. Fender geblieben? Was ist mit den wissenschaftlichen
Prognoseverfahren, von denen sie ihm erzählt hat? »Halten Sie es für möglich,
dass er noch mehr Verbrechen begangen hat, von denen man noch nichts wei�«,
fragt er.
Ihre Züge glätten sich, sie setzt sich wieder aufrecht hin. »Das
habe ich nicht gesagt.«
»Aber nur so etwas könnte ihm ein neues Verfahren und damit
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