Der Tote vom Maschsee
strebt nach drauÃen.
Odas Golf überquert den Stichkanal Misburg. Frachtschiffe
gleiten im grünlichen Wasser träge dahin. Links liegt der Industriehafen mit
seinen Kränen. Gleich hinter der Brücke biegen sie rechts ab und fahren am
Kanal entlang, der hier schmaler ist als am Industriehafen. Dort, wo das
Gewässer einen Knick nach Süden macht, liegt ein verträumter kleiner
Jachthafen, dem es jedoch an jeglicher Mondänität mangelt. Etwa dreiÃig
kleinere Motorjachten dümpeln gut verpackt an der Kaimauer. Ein Entenpaar lässt
sich entlang der Achterdecks treiben. Alles wirkt verschlafen, sogar das Wasser
im Kanal scheint nicht zu flieÃen. Nur ein Jachtbesitzer ist da und pinselt den
Namenszug seines Bootes Rosinante nach, eine ältere
Frau im Badeanzug wischt das Deck. Sonst ist kein Mensch zu sehen.
Auf dem Parkplatz stehen die einschlägigen Fahrzeuge: zwei
Streifenwagen, Bächles Mercedes, Völxens edle Chaise. Der blaue Lack ist von
einer Schicht weiÃen Staubes überzogen. Sie steigen aus.
»So, und jetzt?«, fragt Jule. Zwei Wege führen vom Hafen weg in
nördliche Richtung.
»Sie hätten ja mal jemanden dalassen können«, schimpft Oda.
»Nehmen wir den linken«, schlägt Jule vor. Der Untergrund fühlt sich
an, als würde man auf einer Schicht Kreide gehen. Sie passieren ein Schild, das
die Gegend als Naturschutzgebiet ausweist.
»ScheiÃzeug«, flucht Oda, deren schwarze Hosenbeine bis zum Knie
bemehlt sind.
»Das ist Kalkmergel«, doziert Jule. »Ist während der Kreidezeit aus
Planktonschalen und Schlamm entstanden. Ende des 19.
Jahrhunderts wurde Kalkmergel als Rohstoff für die Zementherstellung entdeckt.
Deshalb hat sich die Portland-Cementfabrik hier angesiedelt, ihren Werkshafen
gebaut und ihn mit dem Mittellandkanal verbunden. Ich glaube, das war 1926. Ja, doch. Ein paar
Jahre später kam die Raffinerie Deurag-Nerag mit ihrem Ãlhafen dazu. Hast du
gewusst, dass es um Nienhagen und Peine herum ganz respektable Ãlfelder gegeben
hat?«
Oda bleibt abrupt stehen und sieht Jule an. »Bist du ein wandelndes
Lexikon, oder so was?«
»Ich vergesse kaum, was ich mal gelesen habe. In der Zwölften musste
ich in Geographie eine Facharbeit über die Rückverwandlung von Industriebrachen
in naturnahe Landschaften schreiben. Es gibt da noch eine interessante
Geschichte: Sie haben während des Krieges im Misburger Wald eine zweite
Raffinerie gebaut, beziehungsweise etwas, das aus der Luft wie eine Raffinerie
aussehen sollte. Damit wollten sie die Bombenflieger täuschen. Im Wald kann man
noch die Betonringe sehen, auf denen die falschen Holztanks standen.«
»Hat aber nicht geklappt, oder?«
»Nein. Die Briten haben alles plattgemacht, hauptsächlich die
Wohnhäuser. Hier liegen bestimmt noch etliche Blindgänger, und das Gelände der
Raffinerie ist total verseucht.«
»Apropos Blindgänger. Wir sind falsch.«
Sie stehen an einem See, dessen Ufer von stechend weiÃem Sand
umsäumt wird. Eine GroÃfamilie und etliche knutschende Pärchen bevölkern den
Strand. Polizisten sind weit und breit keine zu sehen.
»Sieht aus wie an der Südsee«, schwärmt Jule.
»Die Palmen fehlen«, bemängelt Oda.
»Der See war vor ein paar Jahren noch nicht da. Ist das schön hier!«
»Komm schon, wir sind nicht zum Sightseeing hier.«
»Ich weië, sagt Jule. Sie redet wie ein Wasserfall, um dieses
mulmige Gefühl zu verdrängen. Sie hat schon Leichen gesehen. Als
Streifenpolizistin war sie etliche Male an Wohnungsöffnungen mit Leichenfunden
beteiligt, fast immer eine unappetitliche Angelegenheit, und zwei Mal ist sie
zu Verkehrsunfällen mit Toten und Schwerverletzten gerufen worden. Aber heute
fühlt es sich anders an. Dies ist ein richtiger Tatort, der Schauplatz eines
Gewaltverbrechens.
»Hat Völxen gesagt, was mit der Leiche ist?«
»Nein, nichts. Er wollte dich gar nicht anrufen, damit du in Ruhe
deine Bude einrichten kannst. Aber ich dachte mir, du bist vielleicht sauer,
wenn wir dich nicht informieren.«
»Ja. Danke.« Das hätte sie Oda gar nicht zugetraut. »Besser als Ikea
mit meinem Vater«, fügt sie hinzu.
Oda zieht ihre fein geschwungenen Augenbrauen hoch. »Er darf mit
aussuchen?«
»Nein. Er ist gestern bei mir eingezogen. Vorübergehend. Weil bei
seiner neuen Freundin kein
Weitere Kostenlose Bücher