Der Tote vom Strand - Roman
an, obwohl sie im Grunde gar keine wollte, und versuchte, an etwas Schönes zu denken.
Er traf eine Viertelstunde später ein. Ein wenig verspätet, aber nicht sehr. Sie sah sein weißes Hemd in der klaren Dunkelheit
schon aus der Ferne, blieb aber sitzen, bis er sie erreicht hatte. Dann sprang sie auf. Legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihn an sich. Küsste ihn.
Merkte, dass er ein wenig nach Schnaps schmeckte, aber wirklich nur ein wenig.
»Da bist du wieder.«
»Ja.«
»War es schön?«
»Toll.«
Sie schwiegen einen Moment. Er umklammerte ihre beiden Oberarme.
»Ich muss dir etwas sagen«, sagte sie dann.
»Ach?«
Sein Zugriff lockerte sich ein wenig.
»Ich hab es mir anders überlegt.«
»Anders überlegt?«
»Ja.«
»Was, zum Teufel, soll das heißen?«, fragte er. »Sag schon.«
Sie sagte es ihm. Erklärte. Fand nur mit Mühe die richtigen Worte, aber nach und nach schien er zu begreifen. Zunächst schwieg er, und sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen. Er hatte sie jetzt losgelassen, ganz und gar. Eine halbe Minute verging, vielleicht auch eine ganze, und sie standen nur da. Standen da und atmeten im Takt von Meer und Wellen, so kam es ihr vor, und etwas daran war ein wenig unbehaglich.
»Wir machen einen Spaziergang«, sagte er dann und legte ihr den Arm um die Schultern. »Und reden darüber. Ich habe eine Idee.«
2
Juli 1999
Helmut war von Anfang an dagegen gewesen.
Als sie später daran zurückdachte, musste sie ihm das immerhin zugestehen. »Blödsinn«, hatte er gesagt. »Verdammter Blödsinn.«
Er hatte die Zeitung sinken lassen und sie einige Sekunden lang aus seinen blassen Augen angesehen, während er langsam die Kiefer hin und her rollte und den Kopf schräg legte.
»Keine Ahnung, wozu das gut sein soll. Überflüssig.«
Das war alles. Helmut war keiner, der mit Worten um sich warf. Er war überhaupt eher vom Stein gekommen als vom Staub und zweifellos schon jetzt wieder auf dem Weg dorthin.
Vom Stein bist du gekommen und zum Stein sollst du werden. Das dachte sie nicht zum ersten Mal.
Es hatte natürlich seine Vor- und Nachteile. Sie wusste ja, dass sie nicht Sturm und Feuer gesuchte hatte, als sie sich für ihn entschieden hatte — nicht Liebe und Leidenschaft —, sondern einen Felsen. Graues, festes Urgestein, auf dem sie fest stehen konnte und nicht fürchten musste, wieder im Nebel der Verzweiflung zu versinken.
So ungefähr.
So ungefähr hatte sie vor fünfzehn Jahren gedacht, als er an die Tür geklopft und erklärt hatte, er habe im Urlaub eine Flasche Burgunder gekauft, die er einfach nicht allein austrinken wolle.
Und wenn sie es nicht schon im ersten Moment gedacht hatte,
dann doch sehr bald danach. Als sie einander dann häufiger trafen.
In der Waschküche. Auf der Straße. Im Laden.
Oder wenn sie an den warmen Sommerabenden auf dem Balkon saß und versuchte, Mikaela in den Schlaf zu wiegen, und er drei Meter weiter auf dem Nachbarbalkon stand, seine Pfeife paffte und in die letzten Reste des Sonnenuntergangs hineinschaute, der sich auf dem gewaltigen offenen westlichen Himmel über der Polderlandschaft ausbreitete.
Wand an Wand. Das war wie ein Gedanke.
Ein Gott der Sicherheit, der seinen steinernen Finger auf sie richtete, während sie in einem gebrechlichen Fahrzeug über das Meer der Gefühle trieb.
Auf sie und Mikaela. Ja, so war es wirklich gewesen, und im Nachhinein konnte sie manchmal darüber lachen und manchmal nicht.
Fünfzehn Jahre war das jetzt alles her. Mikaela war damals drei gewesen. Jetzt war sie achtzehn. In diesem Sommer würde sie achtzehn werden.
»Wie gesagt«, hatte er hinter seiner Zeitung wiederholt. »Glücklicher wird dieses Wissen sie nicht machen.«
Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Wieder und wieder hatte sie sich später diese Frage gestellt. In den Tagen der Unruhe und der Verzweiflung. Wenn sie versuchte, ihre Kräfte zu sammeln und die einzelnen Glieder der Kette zu betrachten, die Ursache dafür zu finden, dass sie getan hatte, was sie getan hatte... oder einfach ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie hatte nicht genug Kraft, um über diese Zeit zu sprechen. Über diese grauenhaften Sommertage.
Sie hatte einfach das Richtige getan, so hatte sie das gesehen. Sie hatte getan, was gut und richtig gewesen war. Hatte nicht gegen den Beschluss verstoßen, auf den all diese Jahre doch gegründet waren. Auch der war in gewisser Hinsicht wie ein Stein gewesen. Ein düsterer
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