Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
nicht zu sehr weint, obwohl mein Mann … Ach, das muss Sie nicht interessieren. Das ist jedenfalls meine Liste. Verschiedene Listen gibt es für meine beiden Buben, wer mir wobei geholfen hat, in der Küche zum Beispiel, und welche Noten sie aus der Schule heimbringen. Jedenfalls, als diese Sache mit Herrn Baumann so zunahm, habe ich eine Liste angefangen. Links habe ich notiert, wie oft ich das Büro betreten habe, in der Rubrik daneben, unter der Überschrift ›BaF‹, also ›Baumann am Fenster‹, habe ich einen Strich gemacht, wenn er so dastand, wie ich es Ihnen gerade gezeigt habe, und daneben dann den Monat. Für jede Woche habe ich eine neue Zeile angefangen, und wenn Herr Baumann in Urlaub war oder krank, habe ich es am Rand notiert. Ganz einfach also.«
Sie legte das Blatt in die Mitte des Tisches und drehte es so, dass die beiden Kommissare es sehen konnten.
Tatsächlich gab es in den letzten fünf Monaten, in denen die Sekretärin die Liste geführt hatte, eine deutliche Zunahme an Strichen in der »BaF«-Rubrik.
»Kann man daraus schließen, dass Herr Baumann seine berufliche Motivation verloren hat? Dass er nachlässiger gearbeitet hat?«
»Nein. Ganz gewiss nicht«, sagte sie und faltete ihre Liste schnell zusammen. Sie wirkte plötzlich nervös, als befürchtete sie mit einem Mal, dass dieser Tick von ihr falsch interpretiert werden könnte. »Herr Baumann war sehr korrekt und zuverlässig. Im Gegenteil – je mehr er in diese, wie soll ich sagen, depressive Phase rutschte … aber depressiv ist eigentlich nicht das richtige Wort. Abgewandt sollte ich sagen, ja, so wie er sich von mir in gewissem Sinne abgewandt hat, hat er es vielleicht von allem getan. Je mehr das zunahm, desto penibler, korrekter war er, wenn es um seine Arbeit ging. Als wollte er sich anderen gegenüber nichts anmerken lassen.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass er in einer Krise steckte? Vielleicht sogar depressiv war?«
Die Sekretärin legte die Fingerkuppen der rechten Hand auf einen Eiswürfel, der mittlerweile die Hälfte seines Volumens verloren hatte. Die Eisstücke schwammen im Wasser wie Fleischstücke in einer Suppe.
»Das kann ich schwer sagen«, antwortete sie und tupfte mit den angefeuchteten Fingerspitzen auf den linken Unterarm, nahe der Hand. Ihre Haut war weiß und makellos wie die eines Kindes. »Er hat ja nie etwas von sich preisgegeben. Vielleicht war es die so genannte Midlifecrisis, die die Männer in dem Alter manchmal erwischt. Wenn man von den Symptomen ausgeht, wäre mein eigener allerdings seit dreißig Jahren in dieser Krise. Ungezügelt ist er, mundfaul, reizbar den Jungen gegenüber. Manchmal steht er, genau in dem Moment, wenn ich es mir neben ihm auf der Couch gemütlich machen will, nachdem ich ganz alleine die Küche gemacht habe – dann steht er wortlos auf und geht einfach weg, zum Kartenspielen in die Wirtschaft. Als müsste er genau diesen Moment abwarten, in dem ich …« Sie stoppte selbst ihren Redefluss und errötete wieder.
Gerald zeigte ihr die Schlüssel und ein Foto der Kleidung, in der sie den Toten gefunden hatten.
»Gott im Himmel«, rief sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wer hat denn Herrn Baumann so zugerichtet? Ich habe es nicht glauben wollen, als ich die Beschreibung in der Zeitung gelesen habe. Ein Irrtum, dachte ich, das muss eine Verwechslung sein. Wer hat ihn da hineingesteckt? Das ist er nicht. Nie und nimmer. Da ist etwas ganz Schlimmes passiert. Und die Schlüssel … nein, die habe ich nie gesehen. Wir haben hier im Haus ganz andere. Herrgott, was ist da nur passiert? Haben sie ihn irgendwohin mitgenommen, ausgeraubt, erschlagen und an der Isar liegen gelassen wie einen toten Fisch? Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Sagen Sie es mir? Meine Buben – wie kann ich sie erziehen, begleiten in die Welt da draußen, wo so Schlimmes passiert.«
Sie begann leise zu weinen, fortwährend schüttelte sie den Kopf, konnte aber den Tränenfluss nicht eindämmen.
»Wir sind überzeugt, den Täter zu finden«, sagte Gerald. Regine Weinzierl nickte und trank einen Schluck Wasser. Durch eine Handbewegung machte sie deutlich, dass sie zwar antworten wollte, aber nicht konnte.
»Sie kennen ja sicher auch Frau Baumann«, fuhr Batzko fort. »Wie wir wissen, hat sie hier im Büro manchmal ausgeholfen, wenn es nötig war. Wie ist Ihr Verhältnis zueinander?«
Frau Weinzierl zögerte lange mit einer Antwort und trocknete zunächst die Tränen in ihrem
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