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Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)

Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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chinesischen Lokalen. Die ihm fremde, undurchdringliche Musik schaffte eine Barriere, die dem Essensgenuss nicht zuträglich war. Warum überhaupt Musik in Restaurants?
    »Es war sicher nicht einfach, hier in der Gegend eine bezahlbare Wohnung zu finden«, sagte Gerald, nachdem sie bestellt hatten. Er hatte sich für Rindfleischstücke in indischem Spinat entschieden, wobei er sich fragte, ob der Spinat tatsächlich aus Indien kam beziehungsweise überhaupt aus Indien kommen sollte. Anne hatte ein Tandoori-Hühnergericht gewählt.
    »Ich hatte Glück«, sagte sie und errötete leicht. »Genauer gesagt: Ich habe Beziehungen über meine Familie.«
    »Das ist in dieser Stadt ein unschätzbares Privileg.«
    Anne Gruber lächelte freundlich, aber es war spürbar, dass sie das Thema nicht vertiefen wollte. Sie sah so anders aus als bei ihrem ersten zufälligen Zusammentreffen, dass Gerald, als er vor dem Haus auf sie gewartet hatte, vor Überraschung einen halben Schritt zurück gemacht hatte. Sie trug eine bunte Bluse, eine Korallenkette und war geschminkt. Der Lippenstift betonte ihren vollen Mund, und sie war offenbar beim Friseur gewesen. Gerald erinnerte sich, dass ihre rotblonden Haare länger gewesen waren. Nun waren ihre Ohren ganz frei, und interessanterweise verlieh ihr der Kurzhaarschnitt eine weiblichere Ausstrahlung, indem er ihren sehr schmalen Hals betonte.
    »Ich wollte Ihnen ja erklären, warum ich mich neulich im Wagen so … merkwürdig verhalten habe.«
    »Das ist okay. Ich meine, Sie müssen sich mir gegenüber nicht …«
    »Ich will aber«, sagte sie heftig und blickte sich vorsichtig um, als fürchtete sie ungebetene Zuhörer. Aber die Tische in ihrer Umgebung waren unbesetzt. »Es ist eigentlich nichts Spektakuläres, sondern nur Teil einer Phase, die ich durchmache. Wo soll ich nur anfangen … Also, ich habe vor etwa einem halben Jahr festgestellt, dass ich immer unglücklicher wurde. Das ist nichts Besonderes, die allermeisten Menschen sind unglücklich und gehen dennoch jeden Tag zur Arbeit, bringen die Kinder in die Schule und sitzen dann abends neben ihrem Partner auf der Couch. Das ganz normale alltägliche Unglück eben. Aber ich konnte mich einfach nicht länger damit abfinden. Wenn Sie mehrmals am Tag vor einem Toilettenspiegel stehen und scheinbar grundlos in Tränen ausbrechen, wenn Sie Menschen aus dem Weg gehen, wenn Sie den Körpergeruch des Menschen, mit dem sie verheiratet sind, nicht mehr länger ertragen können, wenn Sie sich jeden Morgen dazu zwingen müssen, sich die Zähne zu putzen, obwohl Sie sich fühlen wie eine Gefangene in einer Zelle, der es eigentlich komplett egal ist …«
    Sie führte den Satz nicht zu Ende, weil das Essen gebracht wurde. Während Gerald Reis auf seinen Teller häufte, konnte er beobachten, dass Anne sich zwang, tief und ruhig zu atmen. Sie hatte die Finger ineinander verknotet und war ganz darauf konzentriert, den Faden nicht zu verlieren. Das Essen interessierte sie gar nicht.
    »Also, ich habe mir zuerst eingeredet, ich wäre einfach ab und zu in einer depressiven Stimmung, dann dachte ich an eine depressive Phase in meinem Leben und erst dann habe ich akzeptiert, dass es sich um eine wirkliche ausgewachsene, schwere Depression handelt. Ich habe alles abgelehnt und gehasst, an mir selbst und an meinem Leben. Aber eine Psychologin hat mich gelehrt, diesen Zustand nicht als Ende zu sehen, sondern als Anfang.«
    »Ein kluger Ansatz.«
    Immer noch hatte sie die Hände verschränkt und, im Gegensatz zu Gerald, nicht mit dem Essen begonnen.
    »Als Anfang davon, mich selbst überhaupt wahrzunehmen und zu respektieren. Ich hatte immer nur getan, was andere von mir erwartet hatten. Ich habe Steuerfachgehilfin gelernt, weil meine Eltern das passend für mich fanden und es ein vergleichsweise sicherer Job ist. Ich bin, nein, ich war mit meinem Mann zusammen, weil er sich hartnäckig um mich bemüht und ich kein Argument gegen ihn hatte. Aber leider auch keine wirklichen Gefühle für ihn. Oberflächlich betrachtet habe ich alles richtig gemacht, doch dadurch habe ich auch mein wahres Selbst langsam abgetötet. Ich war ein Hund, der brav gehorchte und das mit Leben verwechselte. Und dann habe ich schließlich beschlossen, mich daraus zu befreien. Ich habe sozusagen beschlossen, den braven Schoßhund auszuwildern.«
    »Sie haben Ihren Job gekündigt, Ihren Mann verlassen, die Wohnung gewechselt und wollen es nicht einfach hinnehmen, wenn Ihnen im

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