Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
wollte unbedingt auf dem Laufenden gehalten werden. Die Zeitungen ließen nicht ab von dem mysteriösen Mordfall, und sie wollte natürlich als Erste die neuesten Einzelheiten erfahren, bevor irgendein Kollege oder eine Kollegin Details aus der Morgenbesprechung an die Presse weitergab.
Gegen achtzehn Uhr verließ Gerald das Büro. Als er zu Hause unter der Dusche stand, rief Anne zurück. Sie hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter, dass er sie um halb neun in einem Lokal in Schwabing treffen könne.
Der Treffpunkt in der Schellingstraße erwies sich als eine offenbar gerade erst eröffnete, so genannte Lounge. Das längliche Lokal wurde ganz von einer extravaganten Bar dominiert. Die gepolsterten, mit dem Boden verschraubten Barhocker wirkten aus der Distanz betrachtet wie eine lange Knopfreihe. Die Tische auf der gegenüberliegenden Seite bildeten Nischen wie in einem Fast-Food-Lokal. Allerdings machten die schwarzen Polster und das dunkle Holz der Tische einen auffallend edlen Eindruck. Drucke mit Pop-Art-Motiven hingen an den Wänden, aus den Lautsprechern pulste rhythmusorientierte, laute Musik.
Gerald hatte sich durch eine Traube von rauchenden Gästen auf dem Bürgersteig durchkämpfen müssen. Sie waren durchweg jünger als er, Studenten vermutlich. Sofort spürte er so etwas wie Eifersucht. Er passte nicht in diese Welt, zu diesen Leuten. Was wollte Anne eigentlich von jemandem wie ihm, einem getrennt lebenden Enddreißiger mit einem kleinen Kind?
Gerald fand eine freie Nische. Zwei Frauen Anfang zwanzig hatten gerade bezahlt und verstauten nun ihre Geldbörsen in den Handtaschen. Sie schenkten Gerald keinerlei Beachtung, als sie aufstanden und weggingen, hinterließen aber eine schwere, süßliche Parfümwolke. Gerald bestellte bei der Kellnerin ein Bier und sah auf die Uhr. Er war zehn Minuten zu früh. Als er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, stand plötzlich Anne vor ihm und lächelte ihn an. »Ist bei Ihnen noch ein Platz frei, junger Mann?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass mich jemand in dieser Umgebung für jung hält.«
»Eine gewisse Reife finde ich persönlich sehr reizvoll.«
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, muss ich einen schrecklichen Anblick bieten.«
Gerald widersprach ihr natürlich, aber sie wirkte tatsächlich etwas müde und abgespannt. Sie war blass, ihre Unterlippe zitterte, als wäre sie im Begriff zu weinen. Ihr Hals schien im weiten Kragen des grauen Rollkragenpullovers bleistiftdünn. Ihre Augenlider waren geschminkt, was Gerald an ihr noch nicht gesehen hatte.
»Ich bin sehr froh, dass du kommen konntest. Heute war ein schrecklich anstrengender Tag. Montag eben. Wenn du in einem Callcenter arbeitest, fühlen sich die meisten Leute berechtigt, dich wie eine Müllkippe für ihren persönlichen Frust zu behandeln. Ich hatte allein am Vormittag drei Typen, die nur einen Vorwand gesucht haben, jemanden blöd anzumachen. Es ist ihnen völlig egal, ob du überhaupt zuständig bist. Sie lassen dich nicht einmal ausreden. Der Begriff ›kostenlose Kundenhotline‹ heißt für sie: Sie dürfen alles, du darfst nichts.«
Während sie sprach, hatte sie ihre Hände in seine gelegt, in einer ruhigen Selbstverständlichkeit, als wären sie bereits seit langem ein Paar. Diese Geste entwaffnete ihn. Es fühlte sich an, als würden sich überall in seinem Körper kleine Knoten lösen, als wäre sein ganzer Körper ein Netzwerk aus Verspannungen. Wie lange war es her, dass er nicht mehr berührt worden war? Vier, fünf Monate? Das kann ich nicht länger ertragen, dachte er. Sanft fuhr sie mit ihrem Daumen über seinen Handrücken.
»Kannst du keinen anderen Job finden?«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe ja nichts gelernt, außer Zahlenkolonnen in Steuererklärungen zu überprüfen. Dahin will ich nicht zurück. Was soll ich machen? Kellnern? An einer Supermarktkasse sitzen?« Sie hob die Schultern und versuchte sich an einem Lächeln. »Ich muss diese Übergangsphase akzeptieren, wie sie eben ist. Das fällt mir mal schwerer, mal leichter. Heute war es am Rand der Unerträglichkeit – die miesen Anrufe und unser unsympathischer Chef, der nichts anderes tut, als vor seinem Bildschirm zu sitzen und zu kontrollieren, dass keiner von uns außerhalb der Pausen mal den Stöpsel zieht, um für fünf Minuten seine Ruhe zu haben.«
Die Kellnerin kam, und Anne bestellte ein Glas trockenen Weißwein.
»Hat dir mein Essen
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