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Der Toten tiefes Schweigen

Der Toten tiefes Schweigen

Titel: Der Toten tiefes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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mehr als uns anderen.«
    »Wie kannst du das beurteilen?«
    »Tut mir leid. Aber du weißt es.«
    »Und du? Was meinst du?« Endlich drehte er sich um und sah sie an.
    »Ich vermisse Ma, natürlich, jetzt fehlt sie mir, gerade jetzt hätte ich sie gern bei mir.«
    »Ich meine, was hältst du von Judith?«
    Cat sah ihren Vater an. Ich habe dich nie verstanden, dachte sie, nie gewusst, wie du tickst. Keiner von uns hat dich je verstanden – sehr wahrscheinlich nicht einmal Ma, doch sie hat eine Möglichkeit gefunden, mit dir zu leben, und ich habe immer das Gefühl gehabt, dass du und ich trotzdem ein gutes Verhältnis miteinander haben. Simon ist der Einzige, dem es nicht so geht, er kann es nicht und wird es wohl nie können. Doch in diesem Augenblick könntest du ebenso gut ein ziemlich unsympathischer Fremder sein.
    »Ich mag Judith«, sagte sie. Es klang lahm, aber Erschöpfung und Sorge trafen sie wie eine Faust in die Magengrube, und plötzlich wurde ihr schwindelig.
    Richard sagte nichts, er ging einfach fort, aus dem Warteraum hinaus den Korridor hinunter.
    Cat dachte nichts. Sie war über das Denken hinaus. Und vielleicht war es leichter, hier allein zu sein.
    Er kam mit einem Plastikbecher Kaffee wieder und reichte ihn ihr. »Schwer«, sagte er. »Ich weiß, es ist schwer.«
    Cat trank einen Schluck Kaffee. Er war schwarz und süß.
    Im Wagen hatten sie nicht gesprochen: Richard war gefahren, und Cat hatte hinten mit Chris gesessen, der kurz genörgelt hatte, er habe keinen Grund, ins Krankenhaus zu gehen, und dann bis zur Ankunft vollkommen verstummt war. Er hatte weiterhin geschwiegen, war ihren Blicken ausgewichen, hatte knapp auf die direkten Fragen geantwortet und mit einem Nicken sein Einverständnis für ein MRT zu erkennen gegeben.
    »Er weiß es«, sagte sie jetzt. »Er weiß, wie seine Chancen stehen.«
    »Er kennt die Möglichkeiten, doch es fällt viel schwerer, sich selbst objektiv zu beurteilen.«
    Die Tür zum Röntgenraum öffnete sich. Wie hatte sie so viele Patienten hierherschicken können, ohne jemals auch nur geahnt zu haben, wie es für sie war, hineinzugehen, und für ihre Familien, hier draußen zu warten, auf die Nachrichten zu warten, auf jemanden im weißen Kittel zu warten, der dann in einer Sprache auf sie einredete, die sie nicht verstanden, ihnen Dinge mitteilte, die sie nicht interpretieren konnten? Noch nicht. Nicht hier.
    Cat stand auf. Die Ärztin war jung.
    »Sollen wir hier reden, oder wollen Sie ins Dienstzimmer kommen?«
    »Ist mein Mann …?«
    »Er wird auf die Station verlegt. Ich muss ihn wenigstens für heute Nacht aufnehmen, und Dr.Ling wird ihn sich morgen ansehen, wenn es Ihnen recht ist.«
    Christina Ling. Fachärztin für Neurologie.
    »Kann ich die Aufnahmen sehen?«
    »Ja, natürlich. Dr.Serrailler?«
    »Ich habe wenig Erfahrung mit der Auswertung von MRT -Aufnahmen«, sagte Richard.
    »Komm trotzdem mit«, bat Cat. Sie brauchte ihren Vater nicht für emotionale Unterstützung, sie würde nicht um seine Schulter bitten, sie brauchte ihn, um von seinem Abstand zu zehren, seiner Professionalität, seiner Fähigkeit, die Vernunft walten zu lassen, selbst wenn es um die eigene Familie ging. Auch das war eine gewisse Stärke.
     
    Der Bildschirm leuchtete neonblau, das eigenartige, unpersönliche Bild, wie eine Illustration in einem Lehrbuch.
    Cat starrte hin. Der Querschnitt – die Scheibe, die Schichten dieses Bildes vom Raum innerhalb der Knochenhöhle – war das Innere des Gehirns ihres Mannes, von Chris, dem Vater ihrer Kinder, Dr.Chris, von dem Mann, den sie liebte und mit dem sie seit vierzehn Jahren zusammen war. Chris. Chris’ Gehirn.
    Dr.Louise Parker
hieß es in schwarzen Buchstaben auf dem hellblauen Plastikschild. Assistenzärztin für Neurologie.
    Sie beugte sich vor und bewegte den Cursor auf dem Bildschirm.
    Richard Serrailler räusperte sich.
    »Ja«, sagte Cat. »Ich sehe es.«
    So war es immer. Man wusste es, tat aber so, als wüsste man es nicht; man befürchtete das Schlimmste, nicht weil man pessimistisch war, sondern weil man die medizinischen Fakten kannte. Es war der Beruf.
    Sie hatte es gewusst.
    »Der Herd liegt hier«, sagte Dr.Parker und markierte den dunklen Bereich. »Er ist schon ziemlich groß. Der Patient muss Symptome gehabt haben, aber Tumore können ziemlich rasch wachsen, wie Sie wissen. Der Druck hat gerade einen Punkt erreicht, an dem er elektrische Aktivität entfacht hat, der Grund für seinen Anfall. Das würde

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