Der Toten tiefes Schweigen
gehört. Gut, hatte sie gedacht, ich kann noch ein frühes Bad nehmen, und Don kann die Kartoffeln schälen, wenn er seine Fische gesäubert hat. Vorausgesetzt, es gab Fische.
Dann hatte sie nicht einen Schlüssel in der Tür gehört, sondern die Klingel. Es hatte Sturm geläutet.
Er hatte sich mit Mühe ans Ufer schleppen können, bevor er zusammenbrach, das Gesicht nach unten, als ihn der Schmerz des Herzinfarkts traf, und den halben Tag lang dort gelegen, bis ein Pärchen vorbeikam, das Labradorhunde ausführte.
Ein Assistenzarzt ihres Mannes war einen Monat später an einem Sonntagmorgen aufgetaucht und hatte ihr einfach gesagt, er wolle sie hinfahren, und vielleicht wolle sie ein paar Blumen pflücken und mitnehmen. In der Woche zuvor, sagte er, sei er auf einer Erkundung gewesen. Wusste, wo sie hinzugehen hatten, kannte die Stelle. Er war freundlich und bestimmt gewesen, ein netter Junge mit einer eigenartig vorgewölbten Stirn, randlose Brille. Als sie die genaue Stelle am Ufer erreichten, hatte er sich entfernt und sie zwanzig Minuten allein gelassen. Danach hatten sie in einem Gasthaus in der Nähe ein Steak gegessen. Auch das hatte er im Voraus ausgekundschaftet.
Mephisto rührte sich, gähnte und wühlte sich noch tiefer in den Schlaf. Dann fiel Scheinwerferlicht in die Einfahrt.
Doch es war Simon, der in die Küche kam, stehenblieb, sie ansah, sich umschaute und den Blick dann wieder auf sie richtete. Sie merkte, dass er seine anfängliche Überraschung und Missbilligung rasch unterdrückte. Seine Miene wurde ausdruckslos.
»Was ist passiert?«
Wie sie ihn so vor sich sah, groß, das weißblonde Haar mit einer Geste aus dem Gesicht streichend, die sie sogar in dieser kurzen Zeitspanne wiedererkannte, tat er ihr entsetzlich leid. Sie sah in ihm weder einen Mann Ende dreißig noch einen leitenden Kriminalbeamten, sondern einen Jungen.
»Simon, tut mir leid – zuerst treffen Sie mich in der Küche im Hallam House an und jetzt hier. Ich weiß, wie das aussieht.«
»Oh. Wie denn?«
Kinder reagieren so, dachte Judith und erinnerte sich, dass David genauso gewesen war. Am besten war, ganz normal weiterzumachen, damit sie wieder zu sich kamen. Oder auch nicht. Sie brachte ihn auf den neuesten Stand.
»Den Kindern geht es gut. Sie schlafen jetzt alle. Soll ich Ihnen einen Tee oder etwas anderes machen?«
»Das mache ich schon. Ich setze Kaffee auf. Sie?«
»Danke, ja, ich hätte auch gern welchen.«
Er machte die Schränke auf, nahm die Kaffeekanne heraus, setzte Wasser auf, immer mit dem Rücken zu ihr. Sie blieb auf dem Sofa sitzen. Wartete. Es hatte keinen Zweck, mehr zu sagen und die Dinge zu verschlimmern. Er hatte etwas gegen sie. Sie war am Platz seiner Mutter gewesen, jetzt war sie hier.
»Sind Sie im Dienst?« Das konnte man wohl fragen.
»Ja. Alle sind im Moment in Bereitschaft.«
»Die Schießerei. Hat es noch eine gegeben?«
»Ja. Ein Mädchen wurde erschossen, ein anderes verletzt. Und ein falscher Alarm. Die Stadt ist in heller Aufregung. Jedes Mal wenn jemand in einer stillen Straße hustet, erhalten wir einen Notruf.«
»Alles Frauen. Alle jung. Und erschossen. Wozu? Großer Gott.«
Sie sah ihm zu, wie er das kochende Wasser auf das Kaffeepulver goss. Etwas an der Art, wie er sich vorbeugte, die Kopfhaltung, ließ sie noch mehr Anteil an ihm nehmen. Richard hatte jedes Recht, sich mit ihr zu treffen. Sie hatte ebenfalls jedes Recht, sich mit ihm zu treffen. Doch ganz so dürfte Simon das nicht sehen. Er stellte den Kaffee ab. »Beweg dich«, sagte er und schob Mephisto zur Seite. Der Kater drehte sich, suchte sich eine neue Stellung in dem kleinen Zwischenraum zwischen Simons Bein und der Armlehne des Stuhl und schloss wieder die Augen.
Ich sollte nicht hier sein, dachte Judith. Ich bin ein Eindringling. Ihr war unbehaglich zumute, wie so oft schon, seitdem sie Witwe war, und sie kam sich mitten in einer fremden Familie fehl am Platz vor, im Haus eines anderen. Es war das einsamste und trostloseste Gefühl überhaupt.
[home]
Fünfundzwanzig
S ie saßen zu sechst um den Tisch. Chief Constable Paula Devenish, Chief Superintendent Gilligan, der Leiter der Sondereinheit eins, ein DCS aus Bevham und Serrailler mit einem DI aus dem Revier in Lafferton.
Simon hatte am Morgen bereits Bericht erstattet. Das verwundete Mädchen war in der Nacht gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Das Team war unterwegs, ging von Haus zu Haus und befragte alle, die
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