Der Toten tiefes Schweigen
Bemerkungen blieben aus. Die Stimmung hatte sich verändert.
Zehn Minuten später war die Kantine voll, die Atmosphäre geladen. Das übliche Gelächter hatte hitzigen Diskussionen Platz gemacht.
»Freitag, Samstag haben wir eine echte Chance. Er wird sich inzwischen für Gott halten, er wird planen, in die Menge zu schießen.«
»Mein Gott, hoffentlich nicht.« Clive Rowley spülte einen Bissen Schinkenbrötchen mit seinem Tee hinunter. »Für das Wochenende ist gutes Wetter angesagt, der Jahrmarkt wird brummen.«
»Schwierig im Dunkeln.«
»Stimmt. Aber denk an das Chaos, denk dran, wie leicht es ist, in der Menge unterzutauchen.«
»Meiner Meinung nach sollten sie den Jahrmarkt absagen.«
»O nein«, Louise Kelly war bestürzt, »das ist eine tolle Sache, dieser Töpfermarkt, das können sie nicht. Ich glaube, er wird es nicht wagen. Er ist schlau, wie der Chef sagte, er wird wissen, dass dort mehr Polizisten anwesend sein werden als auf der Abschlussparade der Londoner Polizeiakademie. Nie und nimmer wird er da ein Risiko eingehen.«
»Das denke ich auch.« Vicky Hollywell rührte ununterbrochen in ihrem Kaffee. »Jetzt wird eine Pause eintreten. Er wird sich ruhig halten. Warten, bis wir die höchste Alarmbereitschaft ein paar Stufen runtergefahren haben. Dann wird er irgendwo anders zuschlagen, wo wir es unmöglich vorhersehen können.«
»Allerdings«, sagte Clive und stand auf. »Das hält uns wach. Jede Wette, dass wir jetzt in höherer Alarmbereitschaft sind als die Antiterroreinheiten.«
»Und das gefällt dir, Clive, oder nicht?«
»Besser, als den verdammten Einsatzwagen jeden Morgen zu waschen und nicht genug Schießübungen zu haben. Lasst uns von hier verschwinden.«
[home]
Dreiundfünfzig
A m späten Nachmittag ging Jane Fitzroy zur Intensivstation. Die letzte Stunde hatte sie bei der Familie eines jungen Mädchens verbracht, das sich allen Befürchtungen zum Trotz von einer Meningitis erholt hatte. Jetzt hatte man sie gebeten, Nancy Lee nach ihrer siebenstündigen Hirnoperation zu besuchen. Am Morgen war sie gerufen worden, um ein Frühgeborenes zu taufen, das aller Voraussicht nach nicht mehr als ein paar Stunden überleben würde. Nichts hatte sie wirklich darauf vorbereitet, dachte sie, als Krankenhausseelsorgerin immer wieder an ihre Grenzen zu stoßen. Die Stationsschwester sah sie mit merkwürdigem Ausdruck an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Nancy Lee – ist sie aus dem OP zurück?«
»Ich sehe nach. Sie sind neu, nicht wahr?« Sie war anscheinend nicht besonders erfreut, eine Geistliche zu sehen – vielleicht war sie der Meinung, dass die nur im Weg standen.
Jane lächelte sie an. Es wirkte nicht.
Auf der Intensivstation brummten und piepten die üblichen Maschinen. Leise Stimmen waren zu hören.
»Nische drei.«
»Danke. Hat Schwester Wicks Dienst?«
»Ja, aber sie hat viel zu tun.«
»Okay, ich werde sie später aufsuchen. Danke.«
Keine Reaktion.
Nische drei war hinten, und Schwester Wicks war da. Die vierzehnjährige Nancy Lee war an Monitore, Schläuche und Infusionsflaschen angeschlossen, hatte die Augen geschlossen, den Kopf mit Verbänden umwickelt. Ihre Mutter saß neben ihr und hielt eine Hand in ihren beiden Händen. Doch als Jane leise hereinkam, sah sie auf und lächelte, ein offenes, schönes Lächeln, voller Freude und Erleichterung.
Schwester Wicks sagte: »Gute Nachrichten« und deutete mit einem Kopfnicken auf Nancy.
»Ja?«
»Der Tumor war nicht bösartig, und sie haben ihn restlos entfernt. Die Aussichten sind sehr gut.«
Jane traten Tränen in die Augen. Am Morgen, als sie gekommen war, um ein Gebet zu sprechen, bevor Nancy in den Operationssaal gebracht wurde, war die Prognose düster gewesen, der Tumor war als bösartig eingestuft worden, und man glaubte, ihn nur schwer entfernen zu können.
Nancys Mutter sagte: »Es ist ein Wunder. Das wunderbarste Wunder überhaupt.«
»Das sind gewiss gute Nachrichten«, sagte Jane. Sie hatte ein ungutes Gefühl, wenn Menschen Wunder geltend machten, besonders zu bald nach einem größeren Eingriff oder im frühen Stadium einer ernsten Erkrankung. Was war eigentlich ein Wunder? Sie dachte an Chris Deerborn, der keine guten Aussichten hatte, keine Überraschung, kein Wunder. Sie warf einen Blick auf Nancys junges Gesicht. Das Mädchen wirkte unendlich weit entfernt, unendlich zerbrechlich.
»Wollen Sie ein Dankgebet sprechen? Gott war so gut, er hält seine Versprechen.« Nancys Mutter war
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