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Der Totengarten

Der Totengarten

Titel: Der Totengarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Pelecanos
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dass ich sage, dass Toby den anderen Jungen zuerst geschlagen hat.«
    »Einer muss nun mal zuerst zuschlagen«, sagte Ramone, der jetzt als Mann sprach und nicht als Vater. »War es denn ein fairer Kampf?«
    »Der andere Junge war sogar größer als Toby. Einer von diesen Skater-Kids. Und er hat Toby herausgefordert. Das kann er doch nicht einfach nachher wieder zurücknehmen.«
    »Und es waren nur die zwei beteiligt? Es sind nicht noch mehr auf den anderen Jungen losgegangen, oder?«
    »Nein, nur die zwei.«
    »Wo liegt dann das Problem?«
    »Naja, ich meine nur, ich werd meinen Freund nicht verpfeifen.«
    Das hätte Ramone auch nicht von seinem Sohn gewollt. Aber es wäre nicht richtig gewesen, wenn er das so direkt gesagt hätte, denn er musste seine Rolle spielen. Also schwieg er.
    »In Ordnung?«, fragte Diego.
    »Zieh dich zum Essen um«, sagte Ramone mit einem knappen, strategischen Nicken.
    Während Diego ein frisches T-Shirt anzog, sah Ramone sich im Zimmer seines Sohnes um. An einer Pinnwand hingen aus Musikzeitschriften ausgeschnittene Bilder von Rappern und ein schickes Foto von einem tiefergelegten, restaurierten 63er-Chevrolet Impala; ein Poster von einem Boxstudio, eine Collage mit Kämpfern aus der Region mit Tyson und Ali, und am unteren Rand stand: »Gute Kämpfer gehen bis an die Schwelle des Schmerzes und überschreiten sie auf dem Weg zur wahren Größe.« Auf dem Boden lagen Selbstgebrannte CDs, ein CD-Rack, eine tragbare Stereoanlage, einige Ausgaben des Gangstarapper-Magazins Don Diva und einer Waffenzeitschrift, Jeans und T-Shirts, frische und getragene durcheinander, Authentic-Trikots von mehreren Teams, ein Paar Timberlands und zwei Paar Nikes. Auf dem Schreibtisch, der selten für Schularbeiten benutzt wurde, lagen ein ungelesenes Exemplar von Wolfsblut; ein ungelesenes Exemplar von Die mutige Mattie, von dem Ramone gedacht hatte, es werde seinem Sohn gefallen, doch dieser hatte das Buch nicht einmal aufgeschlagen; Reinigungsmittel für Turnschuhe; Fotos von Mädchen, sowohl schwarzen als auch hispanischen, in engen Jeans und knappen Tops, die in der Mall aufgenommen waren und die Diego geschenkt bekommen hatte; zwei Würfel; ein Butanfeuerzeug mit einem Hanfblatt als Motiv und sein Ringbuch, vorne stand im Graffitistil der Name Dago. An einem Nagel, den Diego in die Wand geschlagen hatte, hing eine Kappe mit seinem Spitznamen und der Zahl »09«, dem Jahr, in dem er seinen Highschoolabschluss machen sollte.
    Das Zimmer seines Sohnes erinnerte Ramone stark an sein eigenes, damals 1977, auch wenn der Stil anders war und sich viel verändert hatte, kulturell und auch technologisch. Überhaupt war Diego seinem Vater in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich.
    »Was gibt’s zu essen?«, fragte Diego.
    »Deine Mutter kocht eine Soße.«
    »Ihre oder die von Grandmom?«
    »Geh schon, Junge«, sagte Ramone. »Wasch dich.«

ZEHN
    Holiday war nicht richtig betrunken, sondern hauptsächlich müde. Den Alkohol hatte er zum größten Teil ausgeschwitzt, als er mit Rita im Bett war. Jetzt fuhr er über die Mautstraße und dann über den inneren Ring des Beltway von Virginia nach Maryland. Seine Sicht war klar; er fühlte sich zwar ein wenig benebelt, aber es ging ihm gut.
    Während der Fahrt hörte er über Satellit den Classic-Rock-Sender. Musik interessierte ihn nicht besonders, aber mit 70er-Jahre-Rock kannte er sich aus. Sein älterer Bruder, der früher sein Idol gewesen war, hatte damals in ihrem gemeinsamen Elternhaus seine Platten gehört, und so war dieser Abschnitt der Musikgeschichte als einziger nicht spurlos an Holiday vorbeigegangen. Gerade lief eine Liveaufnahme von Humble Pie; Steve Marriott grölte in seinem verschliffenen Cockney-Akzent »Awl royt!«, dann fiel die Band mit einem schweren Blues-Rock-Riff ein.
    Inzwischen sah Holiday seinen Bruder nur noch zu Weihnachten und auch nur, um seine Neffen wissen zu lassen, dass ihr Onkel Doc nicht aus der Welt war. Doch die Neffen würden bald aufs College gehen, und Holiday nahm an, dass dann auch die jährlichen Besuche vorbei sein würden. Sein Bruder war Hypothekenbanker, wohnte draußen in Germantown, fuhr einen Nissan Pathfinder, obwohl er den Geländewagen nur dazu nutzte, über die 270 zwischen seinem Wohnort und D.C.. zu pendeln, und war mit einer Frau verheiratet, die Holiday nicht mit der Kneifzange angefasst hätte. Sein Bruder war Welten entfernt von dem langhaarigen, coolen Teenager, der damals im Keller ihres Elternhauses

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