Der Totengarten
D.C.. weitergeleitet. Telefonanschluss und Hausbesitz reichten aus, um einen Wohnsitz in Maryland anzumelden, und Diego konnte dort zur Schule gehen.
Doch von Anfang an gab es Anzeichen dafür, dass die Entscheidung möglicherweise falsch gewesen sein könnte. An der weiterführenden Schule in Montgomery County gab es ein Förderprogramm für hochbegabte Schüler, und diese Schüler waren überwiegend weiß. Sogenanntes störendes oder undiszipliniertes Verhalten wurde hier weniger geduldet als an Diegos alter Schule in D.C.. Für Lachen oder lautes Reden auf den Gängen oder in der Cafeteria konnte der Betreffende vom Unterricht suspendiert werden. Genauso Schüler, die in der Nähe waren, wenn es irgendwo Ärger gab, auch wenn sie an den Zwischenfällen gar nicht selbst beteiligt waren. Offenbar galten für Diego und seine Freunde andere Regeln als für die begabten Schüler des Förderprogramms. Diese größtenteils weißen Kinder wurden, wie Ramone vermutete, bevorzugt, weil sie den Leistungsdurchschnitt der Schule hoben. Alle übrigen fielen in die Kategorie »andere«. Als Regina ein wenig nachforschte, fand sie heraus, dass schwarze Schüler in Montgomery County dreimal häufiger vom Unterricht suspendiert, zurückgestuft oder der Schule verwiesen wurden als weiße. Da lief eindeutig etwas schief, und auch wenn weder Gus noch Regina voreilig das R-Wort in den Mund nahmen, argwöhnten sie doch, dass die Hautfarbe ihres Sohnes und seiner Freunde indirekt damit zu tun hatte, dass sie als Unruhestifter abgestempelt wurden.
All das spielte sich an einer Schule ab, die in einem als liberal bekannten Stadtviertel lag, in einem Viertel, wo auf vielen Autos Aufkleber mit dem Slogan »Celebrate Diversity« zu sehen waren – »Vielfalt bereichert«.
Wenn Ramone seinen Sohn von der Schule abholte, fiel ihm auf, dass die schwarzen Schüler, die herauskamen, meist unter sich waren und die Straße abwärts zu den Wohnblocks davongingen, während die Weißen die entgegengesetzte Richtung zu ihren Häusern einschlugen. Manchmal, wenn er am Steuer seines Wagens saß und das beobachtete, dachte er: Ich habe mit meinem Sohn einen Fehler begangen.
Das Problem bestand darin, dass man nie ganz sicher sein konnte, ob man für seine Kinder die richtigen Entscheidungen traf. Diejenigen, die behaupteten, es zu wissen, machten entweder sich selbst oder anderen etwas vor. Leider sah man das Ergebnis immer erst im Nachhinein.
Ramone klopfte an die Zimmertür seines Sohnes. Er musste noch einmal lauter klopfen, bis Diego antwortete.
Diego saß auf der Kante seines Bettes, das nur aus einer Matratze auf dem Teppichboden bestand, ohne Bettgestell. Neben ihm lag der Football, den er immer mit ins Bett nahm. Er trug Kopfhörer, und als er sie abnahm, hörte Ramone laut aufgedrehte Go-go-Musik. Diego trug ein ärmelloses T-Shirt, aus dem magere, aber muskulöse Arme hervorragten, und seine Schultern waren schon fast so breit wie die eines erwachsenen Mannes. Auf seiner Oberlippe sprossen erste Barthaare, und er trug schmale Koteletten, zugespitzt wie Minidolche. Sein Haar war kurz geschnitten, er ging alle paar Wochen zum Friseur an der 3rd. Er hatte hellere Haut als Regina, jedoch die gleichen braunen Augen und die breite Nase. Das Grübchen im Kinn hatte er von Ramone.
»Was gibt’s, Dad?«
»Was gibt’s denn bei dir so?«
»Ich chill hier nur rum.«
Ramone baute sich vor ihm auf, die Beine ein wenig gespreizt, in seiner autoritären Polizistenhaltung. Diego erkannte die Pose, grinste schief und schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und stellte sich seinem Vater gegenüber. Er war kaum noch eine Handbreit kleiner als Ramone.
»Okay, ich erzähl’s dir«, sagte Diego.
»Schieß los.«
»Heute ist –«
»Ich weiß.«
»Es war nichts Ernstes.«
»Mom hat es mir schon gesagt.«
»Die müssen mich auf dem Kieker haben, Dad.«
»Aber du hast ihnen Anlass gegeben.«
»Ja, schon«, gab Diego zu.
In seiner ersten Zeit an der neuen Schule hatte Diego sich absichtlich als Unruhestifter aufgespielt. Er hatte das Gefühl gehabt, den Mitschülern zeigen zu müssen, dass er kein Weichei war. Dass er Kampfgeist hatte, dass er cool und witzig war. Ramone und Regina hatten im ersten Monat mehrere verzweifelte Lehrer am Telefon gehabt, die sich beklagten, Diego störe den Unterricht. Ramone hatte daraufhin seinem Sohn gründlich den Kopf zurechtgerückt, hatte ihm strenge, eindringliche Predigten gehalten, ihn gemaßregelt und ihm
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