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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Pyjama lag er rücklings auf dem großen Doppelbett, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Arme neben dem Körper leicht angewinkelt. Auf dem Bett, rechts und links neben seinem Kopf, standen zwei brennende Kerzen – seine Taufkerze und die Hochzeitskerze seiner Eltern. Neben dem Körper des toten Jungen lagen – sauber zu beiden Seiten aufgereiht und symmetrisch zueinander arrangiert – sechs Hochzeitsfotos seiner Eltern, ein großformatigeres lehnte am Kopfende des Bettes. Am Fuß ende, ein wenig unterhalb von Jonas´ Füßen, lag ein von ihm selbstgemaltes Bild. Es zeigte eine fröhliche dreiköpfige Familie neben einem Haus mit Baum unter einer lachenden Sonne. Darunter hatte er geschrieben: Hallo Mami, ein letzter Gruß vor dem langen Schlaf! Ich liebe Dich! Dein Jonas .
    Die Anordnung der Kerzen und zahlreichen Fotografien neben dem Kopf und Körper des toten Kindes und das großformatige Hochzeitsfoto der Eltern am Kopf ende des Bettes erweckten die Assoziation, dass der Täter Jonas regelrecht aufgebahrt hatte.
    Aber warum und wozu? Was ging in ihm währenddessen vor?
    Die operative Fallanalyse sieht solches Täterverhalten als »emotionale Wiedergutmachung« – daher der Name Undoing (vom Englischen »to undo«: ungeschehen oder rückgängig machen). Die Theorie dahinter: Der Täter bereut seine Tat und möchte sie symbolisch zurücknehmen. Dies versucht er zu erreichen, indem er sein Opfer beispielsweise zudeckt oder wie in diesem Fall in eine schlafähnliche Position bringt. Auch Hände falten, Blut abwischen und Wunden verdecken oder verbinden sind typische »Wiedergutmachungsaktionen«.
    Stellen wir an einem Leichenfundort entsprechende Hinweise auf Undoing fest, können wir davon ausgehen, dass der Täter eine persönliche, meist sehr tiefe emotionale Beziehung zu seinem Opfer hatte.
    Das Undoing war jedoch nur ein Teil der Inszenierung. Mit dem anderen Teil – den Teelichtern, den Plakaten und dem Anruf – wollte er gezielt seine Frau treffen, die ihn verlassen hatte.
    Die 32-jährige Evelyn Mohnke hatte sich zehn Monate zuvor von ihrem Mann getrennt und war mit Jonas zu ihrem vierzehn Jahre älteren Freund gezogen, zu dem sie schon seit fast zwei Jahren eine heimliche Beziehung gepflegt hatte. Die Trennung wegen eines anderen Mannes hatte Jörg Mohnke damals tief gekränkt, zudem belastete es ihn sehr, nicht mehr jeden Tag mit seinem Sohn zusammen sein zu können. Sein psychischer Zustand verschlechterte sich so vehement, dass er mehrere Monate krankgeschrieben wurde. Nach einem mehrwöchigen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik schien er allerdings wieder so weit stabilisiert, dass er Jonas an den Wochenenden bei sich haben durfte – zunächst stundenweise, dann auch über Nacht. Jörg Mohnke wohnte immer noch im ehemals gemeinsamen Haus, das allerdings verkauft werden sollte.
    Offenbar war er jedoch keineswegs psychisch stabilisiert, geschweige denn über die Trennung hinweggekommen.
    Warum hatte er sich die Mühe gemacht, den Weg zu seinem toten Sohn in dieser Weise zu flankieren?
    Die Antwort ist so einfach wie gruselig: Mit dem Anruf bei seiner Frau wollte er bewirken, dass sie sich sofort auf den Weg zu ihm macht, in der Hoffnung, Jonas würde noch leben, und mit der Absicht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Hätte Evelyn Mohnke sich so verhalten, wäre sie als Erste in ihrem ehemaligen Familiendomizil eingetroffen. Sie war diejenige, der seine Tat wie auch die Nachtat-Inszenierung galt. Ihr Blick wäre wie der Blick der Polizisten auf die leuchtenden Teelichter gefallen und auf den Weg dazwischen. Diesem Weg wäre sie in ihrer unsagbaren Angst um ihren Sohn gefolgt, vorbei an den Hunderten von DIN-A4-Plakaten an den Wänden, die ihr zusammen mit Erinnerungsfotos an gemeinsame Zeiten in vorwurfsvollen Sätzen ( Du hast alles kaputtgemacht! ) die Schuld dafür zuwiesen, dass es so weit gekommen war. Nur um am Ende festzustellen, dass sie zu spät gekommen und Jonas längst tot war.
    Jörg Mohnke wollte seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau mit grausamer Nachdrücklichkeit vor Augen führen, dass sie die Schuldige war und der Tod ihres gemeinsamen Sohnes die gerechte Strafe dafür, dass sie die Familie auseinandergerissen hatte.
    Die Beamten fanden Jörg Mohnke im Keller des Hauses. Er hatte sich an einem Deckenbalken erhängt. Zu seinen Füßen lag ein handschriftlicher Abschiedsbrief, in dem er die für sich unerträgliche Situation schilderte. Er habe Jonas

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