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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Situation auch einen Rechtsmediziner vor Ort.
    Also hatte ich mich leise, um nicht auch noch den Rest meiner Familie zu wecken, angezogen und mich wenig später auf den Weg gemacht.
    Hauptkommissar Gerd Brehme war erst kurz vor mir eingetroffen und wusste so wenig wie ich, was uns in dem Gebäude erwarten würde. Es sei aber bekannt, dass dort in mehreren Wohnungen Prostituierte legal ihrem Gewerbe nachgingen. Jetzt sei das Gebäude geräumt, seine Kollegen würden bereits auf der Dienststelle die ersten Zeugen vernehmen, auch die Kollegen der Spurensicherung müssten jeden Moment eintreffen.
    Als wir zu zweit auf das Haus zugingen, kamen uns aus der Haustür zwei Feuerwehrmänner entgegen, die ihre Atemschutzmasken in der Hand hielten. Einer von ihnen, der Einsatzleiter, teilte uns mit, dass keine Explosionsgefahr mehr bestünde und auch keine Einsturz gefahr des Hauses, so dass wir das Gebäude betreten könnten. Eine Gasexplosion schloss er aus, seiner Einschätzung nach war die Explosion durch Sprengstoff ausgelöst worden. Zu einem Brand sei es in der betreffenden Wohnung im vierten Obergeschoss nicht gekom men, dort würde aber ein Toter liegen oder besser das, was noch von ihm übrig sei.
    Als wir im vierten Stock ankamen, mittlerweile in weiße Overalls der Spurensicherung gekleidet und verstärkt von zwei Beamten der Kriminaltechnik und einem Polizeifotografen, stellte der Kommissar als Erstes fest, dass die betreffende Wohnungstür keinerlei Beschädigung aufwies, die für ein gewaltsames Eindringen gesprochen hätte. Die Tür war auch sonst unversehrt, doch bereits kurz hinter der Türschwelle bot sich uns ein Bild der Zerstörung. Die Einzimmerwohnung hatte einen etwa drei Meter langen Flur, von dem es in ein zirka dreißig Quadratmeter großes Zimmer abging. Im Wohnungsflur selbst lagen zahlreiche Trümmerteile, neben Teilen der Zimmertür und des Türrahmens vor allem unzählige Bruchstücke von Mobiliar und sonstigen Einrichtungsgegenständen. Holz- und Metallsplitter hatten sich wie Geschosse in die Korridorwand gebohrt. In dem Sicherungskasten war einer der Schalter nach unten gekippt, ein Zeichen, dass es irgendwo einen Kurzschluss gegeben haben musste.
    Als wir das zur Straßenfront gelegene Zimmer betraten, in dem sich die Detonation ereignet hatte, bemerkten wir den starken Schwarzpulvergeruch, wie ihn jeder kennt, der an Silvester schon mal seine Nase in die vom Feuerwerk vernebelte Nacht gehalten oder an einer Schießanlage ein paar Schüsse auf die Zielscheibe abgefeuert hat.
    Mitten in all der Verwüstung lag rechts neben der Tür der Tote. Der Mann lag lang ausgestreckt auf seiner linken Körperseite vor einem zerstörten Sofa. Schon auf den ersten Blick fielen seine schweren Verletzungen auf, obwohl der Körper teilweise von zerstörtem Mobiliar, Mauerresten und Putz bedeckt war. Die Mauerreste stammten aus einem etwa achtzig Zentimeter breiten Loch in der Zimmerdecke, Ergebnis der wuchtigen Explosion, die hier stattgefunden hatte. Seine Oberbekleidung, eine schwarze Lederjacke und ein schwarzer Wollpullover, waren im Rückenbereich großflächig zerrissen. Darunter klaffte im Schulterbereich eine riesige Wunde. Haut und Fleisch waren regelrecht sternförmig auseinanderplatzt. Kopf und Hals des Mannes hingen nur noch über einen mehrere Zentimeter breiten Hautlappen am Rumpf. Zusätzlich klaffte im Hinterkopf ein großes Loch im Schädel.
    Halb unter dem Schutt vergraben lag neben dem Leichnam ein graues Elektrokabel. Eines der Kabel enden war ausgefranst, das andere war mit Hilfe von rotem Isolierband mit einem schwarzen Netzkabel verbunden. Dessen Stecker lag unweit einer Wandsteckdose. Auf der Tapete hinter dem ramponierten Sofa prangte ein riesiger Blutfleck, der weitgehend getrocknet war, in der Mitte jedoch noch feucht glänzte. Außerdem klebten an der Wand wie auf den Resten des zerfetzten Sofabezuges massenweise gelbliche und rötliche Gewebereste und Teile des Hirns. Die übrige Einrichtung des Zimmers war beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen worden.
    Die bizarre Szenerie wurde gerade effektvoll von den Strahlen der aufgehenden Sonne ausgeleuchtet, die durch die zerstörten Fensteröffnungen hereinschien, als das Handy von Gerd Brehme klingelte. Es war einer seiner Kollegen, die gerade dabei waren, die ersten Zeugen zu vernehmen. Eine Prostituierte, die zum Zeitpunkt der Explosion in einer der unteren Etagen ihrer Arbeit nachgegangen war, hatte möglicherweise einen Hinweis

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