Der Totenleser
auslöst. Dabei geht es aus Sicht des Täters nicht um eine Sache, die sich durch Reden aus der Welt schaffen ließe. Er fühlt sich als Person abgewiesen. Und so wird eine Trennung zu einer tödlichen Kränkung.
ExplosiveLeidenschaft
Die Straße vor dem etwas heruntergekommenen vierstöckigen Gebäude aus den Siebzigerjahren war weiträumig abgesperrt. Mehrere Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht blockierten die Fahrbahn auf beiden Enden der etwa achtzig Meter langen Straßensperrung, zusätzlich war rotweißes Flatterband gespannt worden, hinter dem sich trotz der morgendlichen Uhrzeit an diesem Sonntag bereits einige Dutzend Schaulustige versammelt hatten. Vor dem Haus stand ein Löschzug der Feuerwehr, zahlreiche Feuerwehrmänner liefen geschäftig umher. Hinter der Absperrung entdeckte ich Hauptkommissar Gerd Brehme von der Mordkommission und winkte ihm kurz zu. Wir kannten uns von zahlreichen Tatorten, daher gab er einem Schutzpolizisten vor der Absperrung ein Zeichen, mich durchzulassen. Als ich vor dem Gebäude stand, sah ich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die Fensterrahmen der gesamten oberen Etage waren aus der Hauswand herausgerissen und hingen teilweise noch bedrohlich weit zur Straße heraus, so dass ich unwillkürlich ein paar Schritte zurückwich. Wo noch vor wenigen Stunden Fensterscheiben gewesen waren, klafften jetzt vier große schwarze Löcher. Sowohl die Straße als auch beide Gehwege waren übersät mit Glasscherben, Holzsplittern, Mauerbrocken und anderen, teils undefinierbaren Trümmerteilen unterschiedlichster Größe.
Diese Szenerie erinnerte mich an einen Bericht in der Tagesschau über einen Selbstmordattentäter in Israel einige Tage zuvor. Wieder einmal hatte sich ein Mann in Jerusalem mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft gejagt und in der geschäftigen Fußgängerzone mehrere tote Passanten und eine Spur der Verwüstung hinterlassen.
Nur waren hier immerhin keine Passanten zu Schaden gekommen, weil sich wegen der frühen Stunde niemand zufällig auf der Straße aufgehalten hatte. Die umherfliegenden Teile hatten nur zahlreiche in den Parkbuchten abgestellte Fahrzeuge beschädigt.
Wenn wir Rechtsmediziner an einen Leichenfundort gerufen werden, was in Berlin etwa sechzig- bis siebzigmal im Jahr vorkommt, geht es um verschiedene Fragestellungen. Zum Beispiel sollen wir beurteilen, ob Verletzungen bei einem Toten von einer Stich-, Schuss- oder Schlageinwirkung herrühren – damit die Ermittler wissen, nach was für einer Tatwaffe gesucht wird.
Neben einer möglichst genauen Eingrenzung der Todes zeit verspricht sich die Polizei von einem Rechtsmediziner vor Ort eine sichere Einschätzung, ob es sich überhaupt um ein Gewaltverbrechen handelt. Diese Fra gen müssen möglichst rasch von uns beantwortet werden, denn wenn zum Beispiel die Tatwaffe zügig ermittelt und gegebenenfalls auch gefunden wird, führt dies die Ermittler in vielen Fällen zu einem Tatverdächtigen. Die rechtsmedizinische Einschätzung der möglichen Todeszeit (und damit häufig auch der Tatzeit) hilft den Kreis möglicher Täter einzugrenzen und Alibis zu überprüfen. Und je eher den zuständigen Polizeiermittlern diese Daten vorliegen, umso effektiver können sie ihre Arbeit machen. Deshalb hat jedes rechtsmedizinische Institut in Deutschland einen 24-stündigen Bereitschaftsdienst eingerichtet. Der Spruch »Eure Patienten können warten, die haben es ja nicht mehr eilig«, den wir uns immer mal wieder anhören müssen, trifft also keinesfalls zu.
Als an diesem Sonntagmorgen um Viertel nach vier mein Handy geklingelt hatte, hatte ich noch tief und fest geschlafen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Beamter des Kriminaldauerdienstes, der sich angesichts der frühen Stunde deutlich wacher anhörte, als ich mich fühlte. Noch etwas schlaftrunken hörte ich mir den Grund seines Anrufes an: Gegen 2:50 Uhr hatte es in einer der oberen Etagen eines Bordells eine Explosion gegeben. Bei der Evakuierung des Gebäudes, das mitten in einem Wohngebiet nahe dem Stadtzentrum lag, hatten die Einsatzkräfte einen Toten in den Trümmern entdeckt. Die Mordkommission sei bereits auf dem Weg. Was die Ursache der Explosion gewesen sei, könne man noch nicht sagen. Da zum jetzigen Zeitpunkt auch völlig unklar sei, ob man es mit einem Verbrechen oder mit einem wie auch immer gearteten Unfall zu tun habe, und deshalb zunächst in alle Richtungen ermittelt werden müsse, benötige man zur Einschätzung der
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