Der Totenleser
Schleifgeräusch gewesen.
Obwohl alles dafür sprach, dass Walter Lohmann sich eigenhändig das Leben genommen hatte, und es keinerlei Hinweise auf einen anderen Tathergang gab, wurde seine Leiche zur Obduktion in unser Institut gebracht. Bei Haftinsassen wird grundsätzlich die Leichenöffnung veranlasst, weil sich eine Straftat nicht gänzlich aus schließen lässt.
Bei der Obduktion fanden wir mehrere tiefe Schnittverletzungen am Hals des Toten, die den Blick auf die durchtrennte rechtsseitige Halsschlagader und das Innere des Kehlkopfes freigaben. Zusätzlich zeigten sich mehrere oberflächliche, parallel zueinander angeordnete Schnittverletzungen an der Innenseite beider Handgelenke, die allerdings keine Arterien, sondern nur die dort gelegenen oberflächlichen Hautvenen geöffnet hatten. Weitere Verletzungen (zum Beispiel Abwehrverletzungen an den Unterarmen, die auf ein Kampfgeschehen hingedeutet hätten) fanden wir nicht. Die Leichenflecken waren infolge des massiven Blutverlustes nur sehr spärlich vorhanden, die inneren Organe wie Lungen, Leber und Nieren waren ausgesprochen blass. Walter Lohmann war verblutet. Er hatte sich selbst gerichtet, nachdem er Unvorstellbares getan hatte.
Er war schon immer gewaltbereit gewesen und mehrfach wegen Körperverletzung vorbestraft. Zeit seines Lebens wollte er Macht und Kontrolle über »seine« Frauen ausüben. Es hatte wiederholt Polizeieinsätze wegen »häuslicher Gewalt« gegeben, damals noch in der mit Edda Winter bewohnten Wohnung, später in der gemeinsamen Wohnung mit Bettina Lohmann. Beide Frauen hatten in ständiger Angst vor dem nächsten, unkalkulierbaren Gewaltausbruch gelebt. Man könnte also sagen, seine Tat hat sich über Jahrzehnte hinweg angebahnt, zumindest kam sie vor diesem Hintergrund nicht aus heiterem Himmel.
Das Unfassbare, das Walter Lohmann seiner Ehefrau antat – ihr die Augen auszustechen –, ist im Kern ein bekanntes Täterverhalten, für das es in der Kriminalistik einen Namen gibt: »Depersonalisierung«. Der Name entstammt dem Begriffsrepertoire der operativen Fallanalyse, die sich mit immer wiederkehrenden Verhaltensmustern von Gewaltverbrechern beschäftigt. Zwar ist jedes Verbrechen ein Fall für sich, aber es gibt Gemeinsamkeiten in der Vorgehensweise, dem persönlichen Hintergrund und den Motiven auch bei ganz unterschiedlichen Tätern. Anders ausgedrückt: Gewaltverbrechen folgen trotz individueller Besonderheiten manchmal einem ähnlichen Muster. Fallanalytiker (englischsprachig: Profiler ) lesen Spuren am Tatort auf solche Muster hin. Die »Depersonalisierung« ist ein sehr feindseliger, erniedrigender Akt gegenüber dem Opfer. Das aggressive, brutale Vorgehen des Täters führt dabei häufig zu extremen Verstümmelungen oder Gesichtsverletzungen, die sein Opfer regelrecht unkenntlich machen. Entsprechend einleuchtend ist die psychologische Erklärung: Der Täter will das Opfer seiner Identität berauben, es quasi anonymisieren. Nicht zwangsläufig bedeuten solche Handlungen eine länger bestehende Täter-Opfer-Beziehung. Im Gegensatz zu einem anderen Tatmuster – dem Undoing. Was damit gemeint ist, zeigt der Fall Mohnke:
Um zwei Uhr nachts ging bei der Notrufzentrale der Polizei der Anruf einer Frau ein. Aufgelöst erzählte Evelyn Mohnke, dass ihr getrennt lebender Ehemann soeben am Telefon angekündigt habe, erst ihren gemeinsamen Sohn Jonas zu töten und dann sich selbst das Leben zu nehmen. Keine zehn Minuten später hielt ein Streifenwagen vor dem ehemals gemeinsamen Wohnhaus der Familie, in dem sich nach Angaben von Evelyn Mohnke ihr Mann und Sohn aufhielten.
Nachdem auf Klingeln und Klopfen niemand reagierte, verschafften sich die beiden Polizisten gewaltsam Zutritt in das Haus von Jörg Mohnke. Und fanden sich in einer gespenstischen Szenerie wieder:
Von der Eingangstür an standen Hunderte von brennenden Teelichtern auf dem Boden, nicht im Raum verteilt, sondern in zwei Reihen – sie säumten einen Weg. An den Wänden daneben hingen auf einem Computer erstellte DIN-A4-Plakate. Darauf waren verschiedene Fotos einer lachenden Evelyn Mohnke zu sehen, mal alleine mit Jonas, mal gemeinsam mit Jonas und seinem Vater. Über den Fotos waren jeweils in großen Lettern kurze, immer wieder ähnliche Sätze gedruckt: Du hast alles kaputtgemacht! , Alles kaputt! , Du hast alles weggeworfen , Das hast Du zerstört! …
Im Schlafzimmer lag Jonas. Beinahe hätte man denken können, er würde schlafen. Bekleidet mit einem
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