Der Totenleser
erklärt: »Ich muss gehen, weil deine Mama es so will.« Jonas habe ihn gebeten zu bleiben oder ihn doch wenigstens mitzunehmen. Daraufhin habe er seinen Sohn gegen Mitternacht erwürgt.
Unsere Obduktion bestätigte diese Angaben. Die wahrscheinliche Todeszeit von Jonas war gegen Mitternacht; sein Vater starb etwa zwei Stunden später.
Jörg Mohnke hat nicht nur sich selbst das Leben genommen, sondern zuvor einen anderen Menschen getötet – seinen eigenen Sohn. Walter Lohmann hat versucht, seine Ehefrau und seine Exfrau zu töten, bevor er sich in seiner Zelle das Leben nahm. In beiden Fällen handelte es sich damit um einen »erweiterten Suizid«.
Von einem erweiterten Suizid spricht man, wenn eine Person, die den Entschluss gefasst hat, sich das Leben zu nehmen, unmittelbar zuvor eine oder mehrere andere, ihr nahestehende Menschen (meist die eigenen Kinder und/oder Ehe- bzw. Lebenspartner) tötet.
Der erweiterte Suizid wird auch als »Mitnahmesuizid« bezeichnet. Im angloamerikanischen Sprachraum spricht der Rechtsmediziner von murder-suicide , was dem Geschehen sicherlich näher kommt, da die bei einem solchen Suizid getöteten Personen nicht freiwillig aus dem Leben scheiden, sondern gegen ihren Willen Opfer eines Tötungsdelikts werden. Derjenige, der sich zum Suizid entschlossen hat, begeht ein Tötungsdelikt, ehe er sich selbst das Leben nimmt oder es zumindest versucht.
Der Begriff »erweiterter Suizid« wird übrigens nur dann gebraucht, wenn sich die Person, die den Entschluss zum Suizid gefasst hat, letztlich (nach Tötung eines oder mehrerer anderer Menschen) auch tatsächlich das Leben nimmt. Überlebt er oder sie den Suizidversuch (weil die gewählte Methode misslingt oder die Entschlossenheit plötzlich nicht ausreicht), handelt es sich juristisch um ein Tötungsdelikt, und der Betreffende sieht, je nach Motivlage und Tatumständen im Einzelfall, einer Anklage wegen Mordes oder Totschlags entgegen. Hätte sich Walter Lohmann nicht in der Untersuchungshaft das Leben genommen, hätte die Staatsanwaltschaft Anklage wegen zweifachen versuchten Mordes erhoben.
Die Archive unseres rechtsmedizinischen Instituts sind voll von solchen Tragödien durch erweiterte Suizide. In einigen wenigen Fällen ist der Beweggrund wie bei »normalen« Suiziden die nackte Verzweiflung: Man sieht die Existenz von sich und von nahestehenden Menschen bedroht und weiß keinen anderen Ausweg.
So erstickte die 22-jährige Maren Morgenroth ihre kaum ein Jahr alten Zwillinge, indem sie ihnen ein Handtuch vor Mund- und Nasenöffnungen drückte. Danach stürzte sie sich aus ihrer Wohnung im vierten Stock, was sie jedoch schwer verletzt überlebte. Ihr Motiv waren finanzielle Sorgen. Ein fehlerhafter Bescheid der Agentur für Arbeit hatte der alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter die ersatzlose Streichung des Arbeitslosengeldes II (»Hartz IV«) angekündigt. Zwei Tage nachdem sie ihre Kinder getötet hatte, wurde der Bescheid von der Behörde zurückgenommen. Das sollte Maren Morgenroth jedoch nicht mehr erfahren. Zwar überlebte sie ihren Sturz noch fast vier Monate, ehe sie auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses an einer Lungenentzündung starb, allerdings ohne je das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Fälle wie diese sind allerdings die Ausnahme.
Und zwar in doppelter Hinsicht:
Zum einen werden erweiterte Suizide überwiegend von Männern begangen. Und im Gegensatz zu Maren Morgenroth, die ihre Zwillinge erstickte, weil sie aufgrund eines behördlichen Irrtums für ihre kleine Familie keine Perspektive mehr sah, begehen Männer erweiterte Suizide nicht einzig und allein aus dem Grund, dass sie keinen anderen Ausweg mehr wissen – sie wollen in der Regel derjenigen Person schaden, die sie für ihre Situation verantwortlich machen.
Jörg Mohnke brachte seinen achtjährigen Sohn Jonas offenbar in dem festen Glauben um, ihm damit einen Gefallen zu tun. Die Tötung seiner Exfrau zog er offensichtlich nicht einmal in Betracht. Die Inszenierung am Tatort erlaubt diesbezüglich nur eine Interpretation: Sein Hass auf sie war so groß, dass er sie am Leben ließ, damit sie mit dem Verlust ihres Sohnes weiterleben musste und mit der »Schuld«, die er ihr am Zerbrechen der Familie gab.
Wer auch immer Opfer eines erweiterten Suizids wird, der Täter reagiert in nahezu allen Fällen auf eine tiefempfundene Kränkung. Und fast immer ist es eine Trennung – oder eine Trennungsdrohung –, die dieses Gefühl bei ihm
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