Der Totenleser
gedrückt, ehe der Pritschenwagen mit Walter Lohmann am Steuer zum Stehen kam. Edda Winter wurde zwischen dem Kleinlaster, den Trümmern des Verkaufsstandes und der Hauswand eingeklemmt. Ihre beiden Beine waren mehrfach gebrochen, sie erlitt innere Blutungen, aber sie überlebte, wenn auch schwerverletzt. Walter Lohmann trug im Gegensatz zu seiner Exfrau keinerlei Verletzungen davon. Der beim Zusammenstoß ausgelöste Airbag des Fahrzeugs hatte ihn davor bewahrt.
Die Einsatzkräfte der Feuerwehr und der Notarzt fanden bei ihrem Eintreffen ein einziges Trümmerfeld vor. Über all lagen Holzsplitter, zerborstene Blumentöpfe, Blumenerde und Hunderte von Blumen. Vor dem Hintergrund dessen, was sich hier abgespielt hatte, lag ein grausamer Spott darin, dass der Pritschenwagen bei seinem Aufprall regelrecht mit Blumen dekoriert worden war – sie steckten hinter der Stoßstange, hinter den Scheibenwischern und im Kühlergrill.
Was für die Helfer zunächst nach einem Unfall aussah, war nichts anderes als der Schauplatz eines kaltblütigen Mordversuchs. Bereitwillig berichtete Walter Lohmann noch vor Ort, was er beabsichtigt hatte – nämlich seine Exfrau zu töten, um sie »büßen« zu lassen. Und er erzählte den Rettungskräften auch, dass er seine Ehefrau umgebracht habe und wo ihre Leiche in der nur wenige Autominuten entfernten Laubenkolonie zu finden sei.
Sofort fuhren ein Streifenwagen und ein Notarztwagen zu der Gartenlaube, doch fanden die Beamten dort keine Tote. Bettina Lohmann hatte das mehrstündige Martyrium überlebt. Trotzdem ließ das Bild, das sich ihnen in der Laube bot, auch den routinierten Einsatzkräften das Blut in den Adern gefrieren:
Bettina Lohmann lag regungslos auf dem Holzbett, ihr Körper hing schlaff an den über ihrem Kopf mit den Handschellen fixierten Armen. Ihre Arme waren unnatürlich verdreht, Gesicht und Oberkörper blutüberströmt. Unter der hochgerutschten Bluse zeigte sich die Bauchhaut von fliederfarbenen, fast schwarzen Hämatomen übersät. Das Entsetzlichste aber war der ganz und gar leere Blick, mit dem die reglose Frau an die Decke der Laube zu starren schien. Dort, wo sich einmal ihre Augen befunden hatten, waren nur noch zwei dunkle Höhlen – Walter Lohmann hatte ihr die Augen mit einem Küchenmesser herausgeschnitten. Als die Ersthelfer das Klebeband vor ihrem Mund entfernt hatten und sie behutsam ansprachen, entfuhr Bettina Lohmann ein langgezogener, schriller Schrei, der noch aus einigen Hundert Metern Entfernung zu hören war. Und Bettina Lohmann hörte nicht auf zu schreien. Sie schrie unentwegt, während sie von ihren Handfesseln befreit wurde. Sie schrie immer noch, als sie im Krankenwagen abtransportiert wurde, und sie schrie auch noch weiter, als sie bereits im Krankenhaus war. Die aufs Schwerste traumatisierte, blinde Frau wähnte sich offenbar immer noch in der Gartenlaube und in der Gewalt ihres Peinigers – von dem sie dachte, er sei zu ihr zurückgekehrt, um seine Misshandlungen an ihr fortzusetzen.
Walter Lohmann wurde noch am Ort der absichtlichen Kollision wegen zweifach versuchten Mordes in Untersuchungshaft genommen.
Vier Tage nach seiner Festnahme entdeckte ihn ein Vollzugsbeamter neben der Zellenpritsche in einer Blutlache liegend. Er hatte sich die Kehle durchgeschnitten. Unmittelbar neben der Leiche lag die Tatwaffe: ein blutverschmiertes Besteckmesser, wie es mit dem Essensbesteck zur Grundausstattung jedes Gefangenen gehört, der nicht als suizidgefährdet eingestuft ist. Laut ärztlicher Eingangsuntersuchung in der Haftanstalt hatte es am Tage seiner Inhaftierung keine Hinweise auf eine Suizidgefährdung gegeben. Damit zeigte dieser Fall einmal mehr, dass eine solche ärztliche Einschätzung immer nur eine Momentaufnahme sein kann und die menschliche Psyche zu komplex ist, um verlässliche Vorhersagen treffen zu können.
Walter Lohmanns Zellennachbar gab zu Protokoll, er habe am Abend und in der Nacht vor Lohmanns Tod unaufhörlich ein »Geräusch wie ein Vogelgezwitscher« vernommen, das er sich nicht habe erklären können. Nachdem die Ermittler das Brotmesser neben dem Toten und seine Zelle genauer untersucht hatten, konnten sie die Herkunft des Geräuschs sehr schnell erklären: Walter Lohmann hatte die Klinge des normalerweise sehr stumpfen, im Bereich der Klingenspitze vorne abgerundeten Besteckmessers über viele Stunden an der Eisenvergitterung seines Zellenfensters geschärft. Das »Vogelgezwitscher« war in Wirklichkeit das
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