Der Totenleser
auf die Identität des Toten geben können. Eine Dreiviertelstunde bevor sie den ohrenbetäubenden Knall der Explosion gehört habe und verängstigt hinunter auf die Straße gerannt sei, habe »der Adolf« bei ihrer Kollegin Budsara Saengsom geklingelt, die in der nun zerstörten Wohnung ihre Liebesdienste angeboten hatte. Dieser Mann, dessen richtigen Namen die Zeugin nicht kannte, sei Stammfreier der Thailänderin und in den letzten Monaten »immer aufdringlicher« geworden, mittlerweile kreuze er fast täglich im Bordell auf. Den Spitznamen hätten sie und ihre Kolleginnen dem Mann, der auch noch aus Österreich stamme, wegen seines eigentümlichen gestutzten Oberlippenbärtchens verpasst. Der Beamte berichtete weiter, dass sie Budsara Saengsom bereits telefonisch erreicht hatten und gerade von einem Streifenwagen zur Vernehmung abholen ließen.
Nachdem Hauptkommissar Brehme aufgelegt hatte, bückte er sich zu dem Toten hinunter, griff in die Innentaschen der Lederjacke und förderte eine Brieftasche zutage, die einen auf den Namen Alois Hohensinner lau tenden österreichischen Pass enthielt, ausgestellt erst vor wenigen Monaten. Ich selbst beugte mich so weit vor, dass ich den Kopf des Toten zu mir drehen konnte. Dabei lief aus beiden Nasenlöchern etwas Blut heraus, ansonsten war das Gesicht bis auf ein paar Hautschürfungen unverletzt geblieben. So fiel mein Blick gleich auf das von der Zeugin erwähnte »Hitlerbärtchen«. Ein Vergleich mit dem Passfoto ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Explosionsopfer vor uns um den 43-jährigen Passinhaber, Alois Hohensinner, handelte.
Wann immer wir Rechtsmediziner nach einer Explosion herangezogen werden, sollen wir helfen, die zentrale Frage zu beantworten: War es ein Unfall, ein Suizid oder ein Mordanschlag? Schon bevor ich mit einer ersten Leichenschau beginne, spiele ich im Kopf fast automatisch verschiedene Szenarien durch – wie und warum hat sich etwas zugetragen? Da geht es mir so ähnlich wie einem Hausarzt oder Internisten, zu dem ein Patient mit »Bauchschmerzen« kommt und der im Geiste die verschiedenen Differentialdiagnosen durchgeht, die jeweils einzeln überprüft und dann ausgeschlossen oder verifiziert werden müssen.
Im überwiegenden Teil der Fälle lautet die Antwort: Unfall. Ursache sind meist Gasexplosionen nach unsachgemäßer Manipulation an Gasleitungen oder Gas tanks oder Explosionen in entsprechend gefährdeten Industriezweigen der Munitions- oder Feuerwerksher stellung. Dass sich jemand das Leben nimmt, indem er sich in die Luft jagt, ist dagegen extrem selten. Allerdings waren wir vor zwölf Jahren mit einem solchen Fall betraut. Der Suizident hatte die Tür- und Fensterritzen seiner Wohnküche mit Knetmasse abgedichtet, an seinem Herd das Gas aufgedreht, ohne die Kochfelder zum Entflammen zu bringen, mehrere Kerzen angezündet und dann gewartet. In dem Moment, als die Gaskonzentration in der Raumluft die Entflammbarkeit erreichte, lösten die brennenden Kerzen die tödliche Gasexplosion aus.
Mindestens ebenso selten wie Sprengstoffsuizide (nicht zu verwechseln mit Selbstmordattentaten, von denen Deutschland bisher zum Glück verschont geblieben ist) sind Sprengstoffmorde. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die fremdenfeindlich motivierte Briefbombenserie, die zwischen 1993 und 1996 nicht nur Österreich in Atem hielt und vier Menschen das Leben kostete. Ich selbst hatte erst einmal mit einem Mord mittels Sprengstoff zu tun. Vor einigen Jahren war ich als rechtsmedizinischer Gutachter in einen Fall involviert, in dem ein Mann durch eine Rohrbombe gestorben war, die in seinem Umkleideschrank in der Männerumkleide einer Getränkefabrik deponiert gewesen war. Wie sich herausstellte, hatte das Opfer ein Verhältnis mit der Ehefrau eines Arbeitskollegen gehabt, der, nachdem er davon erfuhr, die Bombe selbst konstruiert hatte. Und im Rahmen von langjährigen Rivalitäten um die Vorherrschaft im Rotlichtmilieu hatten vor vielen Jahren in Hamburg Mitglieder einer Zuhälterbande unter dem aufgemotzten Sportwagen eines lästigen Konkurrenten »erfolgreich« eine Autobombe angebracht.
War der Tote hier im Bordell also vielleicht Opfer eines Sprengstoffattentats im Rotlichtmilieu geworden? Eine Gasexplosion hatten die Experten der Feuerwehr ja bereits ausgeschlossen, trotzdem konnte es natürlich ein Unfall gewesen sein. Beispielsweise war nicht auszuschließen, dass jemand im vierten Stock des Bordells Sprengstoff deponiert oder
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