Der Totenleser
Depression abgleiten. Vor diesem Hintergrund mag es manch einen Leser sicher überraschen, dass Stalking erst seit 2007 im deutschen Strafgesetzbuch als eigenständige Straftat verankert ist. Seither kann jemand, der sich der »Nachstellung« nach § 238 schuldig gemacht hat, mit bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafe verurteilt werden. Trotz der verbesserten Rechtslage ist die Justiz häufig nicht in der Lage, Stalkingopfer ausreichend zu schützen.
Über Interpol kamen zwei Tage später entscheidende Informationen über Alois Hohensinner, die ein deutliches Bild von den Umständen und Hintergründen dieses Falles zeichneten: Vier Jahre vor der Explosion war die Ehe in seinem Heimatland in die Brüche gegangen. Danach verließ er Österreich und hielt sich überwiegend in Deutschland auf. Zwar hatte er immer Arbeit, blieb jedoch nie lange an einem Ort. Und Hohensinner war von Beruf Sprengmeister!
Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er bei verschiedenen Geldinstituten fast 200 000 Euro Schulden. In den letzten Jahren nahm er mehrere Kredite bei unterschiedlichen Geldinstituten auf, um damit jeweils wiederum andere fällige Kredite bedienen zu können. Allein in den letzten drei Monaten vor seinem Tode kamen fast 60 000 Euro an Schulden neu hinzu. Ein Großteil seines monatlichen Lohnes wurde regelmäßig gepfändet, das ehemalige Haus der Familie in Österreich stand zur Zwangsversteigerung an. Zu den finanziellen Schwierigkeiten kam die Isolierung von der Familie hinzu, als seine Exfrau wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen nicht nur selbst den Kontakt abbrach, sondern ihm auch jegliche Kontaktaufnahme zu den drei gemeinsamen Kindern untersagte. Laut ihren Angaben, denen weder der Bruder noch die Mutter von Alois Hohensinner widersprachen, waren seine »Weibergeschichten«, die »vermaledeiten Frauenzimmer«, Schuld an seiner Geldnot, denn »der Alois war ein Hurenbock«. In gewisser Weise wurde dies indirekt dadurch bestätigt, dass Hohensinner in den letzten drei Monaten vor seinem Tode noch mehrfach größere Geldbeträge auf ein Konto in Thailand überwiesen hatte, dessen Kontoinhaber ein Verwandter von Budsara Saengsom war. Daraufhin von der Polizei befragt, räumte sie offen ein, ihn um finanzielle Unterstützung für ihre Familie in Thailand gebeten zu haben. Im Gegenzug hatte sie ihm versprochen, intensiver über die Möglichkeit einer privaten Beziehung nachzudenken. Für ihre fast täglichen Liebesdienste hatte sie sich allerdings neben den Spenden in ihre Heimat gesondert entlohnen lassen.
Die Resultate der kriminaltechnischen Untersuchungen räumten letzte Zweifel aus: An den Abstrichen von Alois Hohensinners Haut und Händen konnte nachgewiesen werden, dass die schwarze ölige Schicht wie vermutet Sprengstoffrückstände waren, und zwar Ammoniumnitrat und Cellulosenitrat. Diese beiden chemischen Verbindungen sind die typischen Bestandteile sogenannter gelatinöser Sprengstoffe, die, in Plastikhülsen (»Stangen«) gefüllt, zum Sprengen von Gebäuden und Gestein eingesetzt werden. An den Händen von Alois Hohen sinner fanden sich außerdem Spuren von Trinitrotoluol, besser bekannt unter seiner Abkürzung TNT. Entsprechend gelangten die Kriminaltechniker in ihrem Gutachten zu dem Schluss, dass er, um den gewünschten Effekt zu erzielen, »auch einen kleineren TNT-Körper umsetzte«, wie es in der Fachterminologie der Sprengstoffexperten heißt. Die Explosion des Sprengsatzes, den Alois Hohensinner mit Klebeband an seinem Nacken befestigt hatte, wurde von einem elektrischen Zünder ausgelöst. Von ihm stammten die Kupferkabelreste und blauen Kunststoffsplitter im Körper des Toten. Als Zündleitung hatte das graue Stromkabel fungiert, das wir neben dem Toten gefunden hatten. Zur Detonation war es in dem Moment gekommen, als Hohensinner den Netzstecker in die Wandsteckdose gesteckt hatte, neben der die Feuerwehr ihn später fand. Gleichzeitig löste die Explosion einen elektrischen Kurzschluss aus, daher der nach unten gekippte Schalter in dem an der Flurwand befestigten Sicherungskasten.
Das »Schadensbild«, wie es die Sprengstoffexperten der Polizei nennen, wies darauf hin, dass Alois Hohensinner eine relativ geringe Gesamtmenge Sprengstoff verwendet hatte, nämlich nur etwa 20 bis 40 Gramm. Anscheinend wollte er verhindern, dass andere Personen zu Schaden kamen. Hätte er eine deutlich größere Menge »zur Umsetzung« gebracht, wäre von den elf Personen, die sich in den übrigen Wohnungen des
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