Der Totenleser
versteckt hatte, mit welcher Absicht auch immer. Überhaupt müssen die Ermittler in solchen Fällen auch unwahrscheinlich anmutende Konstellationen in Betracht ziehen. Angesichts der vielbeschworenen weltweiten Terrorgefahr ist beispielsweise eine versehentliche Sprengstoffzündung in Vorbereitung eines Attentats nicht auszuschließen. Trotz mörderischer Absicht würde es sich dabei definitionsgemäß um einen Unfall handeln.
Verschiedenste Szenarien waren noch denkbar, als wir vier Stunden nach meinem Besuch am Explosionsort mit der Obduktion des Toten begannen. Bei der Obduktion von Schuss- und Explosionsopfern gehört eine Röntgenuntersuchung zum standardmäßigen Vorgehen, damit wir bereits vor der Leichenöffnung eine klare Vorstellung von den Verletzungen haben und wissen, ob und wo tief im Körper Projektile oder Metallsplitter stecken. Die Röntgenbilder von Alois Hohensinner zeigten zahlreiche Frakturen im Schulter- und Nackenbereich – was ange sichts des fast vollständig abgetrennten Kopfes keine Überraschung war –, aber keine Splitter oder andere Fremdkörper. Die Durchtrennung von Halswirbelsäule und oberer Brustwirbelsäule und damit auch des Rückenmarks und sämtlicher Halsgefäße hatte zum sofortigen Tod geführt. Auch Brustschlagader und Luftröhre waren nahe dem Herz gekappt, zudem waren beide Lungenflügel an mehreren Stellen eingerissen. Das reichlich geflossene Blut hatte beide Brusthöhlen fast bis zur Hälfte aufgefüllt. Die bis zu vier Zentimeter langen Haare waren um das gewaltige Loch im Schädel herum durch die Hitze der Explosion auf wenige Millimeter Länge versengt worden. Vom Gehirn waren nur noch blutige Reste in der Schädelhöhle geblieben, die Explosion hatte die Schädelbasis zertrümmert und beide Trommelfelle komplett zerfetzt.
Aufgrund dieses Verletzungsbildes musste der Sprengkörper, über dessen Bauart und Herkunft uns die Kriminaltechniker später Genaueres würden sagen können, in unmittelbarer Nähe seiner Schulter- und Nackenregion detoniert sein. Aber auch die meisten anderen Organe waren in Mitleidenschaft gezogen worden: Leber und Milz waren völlig ausgeblutet und mehrfach zerrissen, Dünn- und Dickdarm hatten sich aus ihrer Verankerung in der Bauchhöhle gelöst.
Unterhalb der weit klaffenden Wunde im Schulterbereich bedeckte eine dünne schwarze, ölige Schicht die noch intakten Bereiche der Rückenhaut – sehr wahr scheinlich Rückstände des verwendeten Sprengstoffes. Mit mehreren Wattetupfern rieb ich etwas von der öligen Schicht ab, damit später im Labor die chemische Zusammensetzung analysiert werden konnte, um Hinweise auf die Art und gegebenenfalls Herkunft des Sprengstoffes zu erhalten. Auch von den Fingern und Handinnenflächen des Toten nahm ich solche Abstriche. Obwohl sich hier mit dem bloßen Auge nichts erkennen ließ, würden sich im Labor Sprengstoffspuren nachweisen lassen, falls Alois Hohensinner selbst damit hantiert hatte.
An den Wundrändern fand ich in dem aufgerissenen Unterhautfettgewebe und der darunter gelegenen Muskulatur kleine eingesprengte Kupferkabelreste und winzige blaue Plastikstückchen. Diese ließ ich ebenfalls von meinem Sektionsassistenten asservieren, da es sich hierbei möglicherweise um Bestandteile der Zündvorrichtung handelte. Falls ja, könnten sie den Kriminaltechnikern Hinweise auf Art und Herkunft des verwendeten Zünders geben.
Einen wichtigen Hinweis auf das Geschehen fanden wir im Herz von Alois Hohensinner: Dort entdeckten wir flächenhafte Unterblutungen der Herzinnenhaut. Die zeigen sich auch nach anderen schwersten Traumatisierungen des menschlichen Körpers, etwa wenn jemand aus großer Höhe gestürzt ist oder von einem Lkw überrollt wurde. Unbedingte Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Herz- und Kreislauf des Betreffenden zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung noch funktionierten. Entsprechend sind solche »Verblutungsblutungen« stets ein eindeutiger Beleg, dass das Opfer zum Zeitpunkt der massiven Gewalteinwirkung gelebt hat.
Damit war in unserem aktuellen Fall zum Beispiel ausgeschlossen, dass jemand Alois Hohensinner erst getötet und danach zur Spurenbeseitigung die Explosion ausgelöst hatte. Gleichzeitig gingen die Ermittler fest davon aus, dass der Österreicher zum Zeitpunkt der Explosion allein in der Wohnung in der vierten Etage des Bordells gewesen war, denn jede weitere anwesende Person wäre ebenfalls entweder getötet oder zumindest schwer verletzt worden. Zudem gab es
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