Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
Vom Netzwerk:
im Flur keine Blutspuren, die darauf hingewiesen hätten, dass sich ein Schwerverletzter aus der Wohnung entfernt hatte.
    Als wir die Obduktion beendet hatten, war auch die Vernehmung der Prostituierten Budsara Saengsom abgeschlossen. Die gebürtige Thailänderin, die perfekt Deutsch sprach, hatte der Polizei erzählt, sie sei Alois Hohensinner vier Monate zuvor begegnet, als er das erste Mal das Bordell aufgesucht habe. Seit diesem Tag hatte er nach ihrer Aussage in immer kürzeren Abständen ihre Dienste in Anspruch genommen. In den letzten Wochen habe er sie zunehmend bedrängt, ihre Tätigkeit als Prostituierte aufzugeben. Er würde sie lieben wie noch nie jemanden zuvor und wolle mit ihr »ein neues Leben anfangen«. Budsara Saengsom war abgeklärt genug, Beruf und Privatlebenzu trennen, zumal sie die Gefühle ihres Freiers in keiner Weise teilte. Für sie war er ein Kunde wie jeder andere, zwar ein lukrativer, wie sie unumwunden zugab, aber niemand, den sie außerhalb ihres Bordellzimmers sehen wollte. In den letzten Tagen hatte er sie allerdings massiv belästigt, wobei er aber nie verbal ausfallend oder gar gewalttätig geworden war. Er schickte ihr Dutzende SMS, meist mit fast identischen Texten, in denen es um seine Liebe zu ihr und die gemeinsame Zukunft ging, und rief sie fast jede halbe Stunde an, und das rund um die Uhr. Am Vortag der Explosion war er zweimal bei ihr gewesen. Am späten Vormittag hatte sie mit ihm Geschlechtsverkehr gehabt, für den er auch bezahlt hatte. Am Nachmittag kam er jedoch erneut, diesmal, um mit ihr über die gemeinsame Zukunft zu reden. Statt darauf einzugehen, sorgte sie dafür, dass die zwei Männer, die in dem Bordell als Aufpasser arbeiteten, ihn an die Luft beförderten wie jeden anderen aufdringlichen oder zahlungsunwilligen Freier. Alois Hohensinner machte daraus eine dramatische Szene, indem er immer wieder Budsaras Namen und wilde Liebesschwüre rief, was für einiges Aufsehen in und vor dem Bordell sorgte. In den nächsten Stunden bombardierte er die Prostituierte mit SMS und Anrufen. Am frühen Abend hörten die Versuche der Kontaktaufnahme dann abrupt auf. Aber irgendwann zwischen ein und zwei Uhr morgens stand er plötzlich wieder vor ihrer Tür im Bordell. Da er vorgab, diesmal mit einer größeren Summe Bargeld gekom men zu sein, und Budsara Saengsom gerade ihren letzten Freier verabschiedet hatte, ließ sie ihn ein. Doch schon sehr bald stellte sich heraus, dass Hohensinner kein Geld bei sich hatte, sondern sie erneut überreden wollte, mit ihm wegzugehen und ein neues Leben zu beginnen. Daraufhin nahm die nach einem langen Arbeitstag übermüdete und mit der Situation in diesem Moment überforderte Prostituierte ihre Handtasche und ihren Schlüssel und ließ Alois Hohensinner einfach in ihrer Wohnung zurück.
    Alois Hohensinner hatte mit seinem Geld zwar Budsara Saengsoms Körper kaufen können, nicht aber ihre Liebe. Doch statt das zu erkennen und zu akzeptieren, nahm die Zuneigung, die er ihr gegenüber zu empfinden meinte, pathologische Züge an. Hohensinner hatte offenbar einen Liebeswahn entwickelt. Von einem Liebeswahn oder Erotomanie (vom griechischen Eros = Liebe, Verlangen; Mania = Wahnsinn, Begeisterung) spricht man, wenn eine nicht erwiderte Zuneigung zu einem Menschen obsessive Züge annimmt. Meist richten sich solch wahnhafte Emotionen auf unerreichbare Personen, nicht selten auch auf öffentliche Idole. Dabei wirkt sich die Obsession in sehr unterschiedlichem Verhalten aus. Manch »Liebender« erlebt seine Gefühle still vor sich hin, ohne auch nur zu versuchen, mit dem Objekt seiner Begierde in Kontakt zu treten, andere drängen sich der oder dem Angebeteten auf, sei es in Form von Nachstel lungen oder durch Anrufe, SMS- oder E-Mail-Botschaften rund um die Uhr wie in dem Fall von Alois Hohensinner. Die Übergänge zum Stalking sind dabei fließend.
    Der Begriff Stalking kommt aus dem Englischen und fand bis vor einigen Jahren lediglich im Jäger-Fachjargon Verwendung, wo er das Heranpirschen meint. Aus jedem Liebeswahn kann sich Stalking-Verhalten entwickeln, umgekehrt hat aber nicht jeder Stalker erotomane Motive. Viele Stalker belästigen ihr Opfer nur zu dem Zweck, es zu drangsalieren und zu schikanieren. Die ständige unerwünschte Kontaktaufnahme und die damit erzwungene Nähe können für Stalkingopfer so belastend sein, dass sie unter psychosomatischen Störungen wie Kopfschmerzen oder Magenkrämpfen leiden oder gar in Resignation oder

Weitere Kostenlose Bücher