Der Totenleser
Bordells zum Zeitpunkt der Explosion aufgehalten hatten, sicher niemand mit dem Leben davongekommen.
Die Ergebnisse unserer toxikologischen Untersuchung zeigten, dass Alois Hohensinner nicht unter Drogeneinfluss gehandelt hatte. In seinem Blut waren nur 0,4 Promille Alkohol und keinerlei sonstige Substanzen oder Medikamente nachgewiesen worden.
Weder in Österreich noch in Deutschland war Alois Hohensinner bisher polizeilich in Erscheinung getreten. In den letzten Jahren hatte er für verschiedene Firmen im Gleis- und Tunnelbau gearbeitet und war momentan am Bau einer Bahnstrecke in Norddeutschland als verantwortlicher Sprengmeister eingesetzt. Die Beamten der Mordkommission erfuhren auf Anfrage, dass in keiner der betreffenden Firmen ein Diebstahl von Sprengstoff bekannt geworden war. Auch eine erneute Überprüfung deckte nirgendwo Fehlbestände auf. Doch sämtliche Firmenverantwortliche sagten einhellig, dass es für Alois Hohensinner ohne weiteres möglich gewesen sein dürfte, unbemerkt in den Besitz von Sprengstoff zu gelangen. Beispielsweise liege die Bestückung von Bohrlöchern zur Deponierung von Sprengladungen alleine in der Verantwortlichkeit des zuständigen Sprengmeisters, daher könne niemand überprüfen, wie viel Sprengmittel jeweils wirklich eingesetzt wurde.
Im abschließenden Vermerk der zuständigen Mordkommission hieß es später: »Der beschuldigte Alois Hohensinner dürfte als überführt anzusehen sein, die in Rede stehende Sprengstoffexplosion in suizidaler Absicht herbei geführt zu haben. Bei den Ermittlungen haben sich keine Hinweise ergeben, die darauf hindeuten, dass Dritte beteiligt waren. Aufgrund seiner Spezialkenntnisse im Umgang mit Sprengstoff kann ein Unfall beim Hantieren ausgeschlossen werden. Es wird daher von einer bewussten Auslösung der Explosion ausgegangen. Als Motiv für die Tat kommen seine finanziellen Schwierigkeiten in Betracht. Eine andere Motivlage hat sich bei den Ermittlungen nicht ergeben.«
Auch wenn aus meiner Sicht seine unerwiderte Liebe zu Budsara Saengsom ein weiteres starkes Suizidmotiv war, hätte ein entsprechender Beweis nichts an der abschließenden Bewertung und der daraus resultierenden Einstellung des Todesermittlungsverfahrens geändert: Alois Hohensinner war weder einem Unfall noch einem Mord zum Opfer gefallen, sondern hatte sich mit Hilfe einer selbstdosierten Menge Sprengstoff das Leben genommen.
Alois Hohensinner war von Beruf Sprengmeister gewesen. Um seinem Leben ein Ende zu setzen, tat er das, wozu er ausgebildet war. Nur jagte er diesmal nicht Gestein, sondern sich selbst in die Luft. Demonstrativer kann man den eigenen Suizid wohl kaum inszenieren.
Für das, was Hohensinner tat, gibt es in der Rechtsmedizin einen eigenen Terminus: »Berufsbezogener Suizid«. Von diesem Phänomen sprechen wir, wenn jemand beruflich erworbene Fähigkeiten und Spezialkenntnisse anwendet, um einen Suizid zu planen und durchzuführen. Das ist allerdings nur bestimmten Berufsgruppen möglich, die problemlos Zugang zu Sprengstoff, Waffen, Chemikalien oder Arzneimitteln haben, an die der Rest der Bevölkerung nur schwer oder gar nicht herankommt. Beispiele für berufsbezogene Suizide sind Selbsttötungen von Polizeibeamten oder Jägern mit Schuss waffen, Blausäurevergiftungen von Chemikern, Vergiftungen mit Insektiziden bei Gärtnern, Stromapplikation bei Elektri kern oder die Einnahme bestimmter Medikamente bei Ärzten (etwa die Kombination von Herzfrequenz verlangsamenden Mitteln mit Betablockern oder Insulin). Dabei kennt die Phantasie der Suizidenten keine Grenzen, und sie setzen ihren Plan häufig mit erstaunlicher Akribie um. Das zeigte uns einmal mehr der Fall eines 38 Jahre alten Elektrikers.
Der Mann hatte sich schon seit über drei Wochen nicht mehr bei seinem Psychiater gemeldet, was höchst ungewöhnlich war. Seit ihm sein Hausarzt wegen einer schweren Depression dringend eine medikamentös begleitete Gesprächstherapie empfohlen hatte, war er zu jedem der wöchentlichen Termine erschienen. Als der Psychiater seinen Patienten trotz mehrerer Versuche auch telefonisch nicht erreichen konnte, verständigte er die Polizei, worauf zwei Beamte des Streifendienstes die Wohnung des gelernten Elektrikers durch einen Schlüsseldienst öffnen ließen.
Schon der Geruch, der durch die Tür nach draußen drang, verhieß nichts Gutes. Sie fanden den Mann tot auf dem Fußboden, sein Leichnam war bereits fäulnisverändert. Die Hinweise auf seine Akribie
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