Der Totenleser
konnte man jedoch ohne weiteres erkennen: An seiner Brusthaut und am Rücken hatte er auf Höhe des Herzens mit Klebeband je ein Fünf-Cent-Stück befestigt. An die beiden Fünf-Cent-Stücke waren jeweils die abisolierten Enden zwei-er Elektrokabel gelötet, die ihrerseits mit einer Zeit schaltuhr verbunden waren. Als die Polizisten die Leiche fanden, steckte die Schaltuhr in einer nahe gelegenen Steckdose und war noch immer in Betrieb. Auf dem Fußboden daneben sowie auf einem Schreibtisch lagen zahlreiche handschriftliche Notizen. Diese »Merkzettel« waren durchnummeriert und dokumentierten Schritt für Schritt die minutiös getroffenen Vorbereitungen: Haut mit Alkohol abreiben, Cent-Stücke anfeuchten, Zwei große Lagen Klebeband, Telefon rausziehen, Phasenprüfer Schaltuhr testen, Unterer Schiebeschalter auf Mitte, Stecker rein . Aus der gespeicherten Einstellung der Zeitschaltuhr ging hervor, dass der Elektriker, nachdem er die Zeitschaltuhr »scharf« gemacht hatte, noch knapp drei Stunden zu leben hatte. Diese drei Stunden konnte er allerdings nicht mit dem bewussten Warten auf seinen Tod zugebracht haben. Bei unseren chemisch-toxikologischen Untersuchungen stießen wir in seinem Blut auf eine sehr hohe, fast tödliche Konzentration eines starken Schlafmittels. Er hatte seinen eigenen Tod verschlafen, aber auch hier kam wieder seine Akribie zum Tragen: Wie unsere Toxikologen berechneten, tötete der Stromschlag den Elektriker in einer Phase, in der die bewusstseinstrübende Medikamentenwirkung am stärksten war.
Alois Hohensinner hatte keine Zettel geschrieben und die Sprengung auch nicht per Zeitzünder ausgelöst. Aber nachdem man ihn aus dem Bordell geworfen und an schließend die Frau, der seine Obsession galt, auf keinen Anruf und keine SMS reagiert hatte, begann auch er mit akribischen Vorbereitungen. Dabei nutzte er sein berufliches Know-how, um eine Bombe zu basteln und den Sprengstoff so zu dosieren, dass möglichst keine anderen Menschen zu Schaden kamen. Das Besondere an diesem Fall: Der gelernte Sprengmeister ließ sich sozusagen eine Hintertür offen, indem er zunächst noch einen Versuch unternahm, die »Frau seines Herzens« zu überzeugen. An einen Erfolg glaubte er wohl selbst nicht, denn er nahm seine sprengkräftigen Suizid-Utensilien gleich mit. Als auch dieser letzte Versuch, Budsara Saengsom zu einer gemeinsamen Zukunft zu überreden, scheiterte, machte er von dem, was er vorbereitet und mitgebracht hatte, Gebrauch.
Was wir nicht wissen: Wie hätte sich Alois Hohensinner verhalten, wenn Budsara nicht einfach gegangen wäre, ohne sich um ihn zu kümmern? Hätte er die Bombe trotzdem gezündet und sie mit in den Tod gerissen? Dann wäre es ein erweiterter Suizid gewesen. Oder hätte sich der Verschmähte und finanziell Ruinierte einen einsamen Ort für seine explosive Tat gesucht? Auffällig ist, dass er bei seinen Überzeugungsversuchen, zumindest nach Aussage Budsaras, zu keinem Zeitpunkt mit dem vorbereiteten Freitod oder der Sprengladung gedroht hat.
In ihrer abschließenden Vernehmung knapp zwei Wochen nach der Explosion hörte sich Budsara Saengsom die Resultate der Ermittlungen teilnahmslos an. Auch die Erwähnung seiner massiven finanziellen Probleme, an deren Ausmaß sie ja letztlich nicht unschuldig gewesen war, ließ sie völlig kalt. Ihre Wohnung im vierten Stock des Bordells war seit einigen Tagen renoviert, nichts erinnerte mehr daran, dass sich hier vor weniger als zwei Wochen eine Explosion ereignet hatte, bei der ein Mensch getötet worden war. Budsara Saengsom ging wieder wie üblich ihrem Gewerbe nach.
»Das Leben geht weiter« – mit diesen Worten schloss Hauptkommissar Brehme seinen Bericht, als er mich zum Ende des Falles anrief. Life is a bitch , dachte ich. Sprach es aber nicht aus.
ErsponnenePräzision
Ein Kollege von mir musste in einem Strafverfahren, in dem zwei Männer des Totschlages eines Schwerbehinderten angeklagt waren, als Sachverständiger aussagen. In seinem mündlichen Gutachten vor Gericht ging es neben der Todesursache und den Obduktionsbefunden auch um den Todeszeitpunkt. Damit sollte geklärt werden, ob zeitnah eingeleitete Reanimationsversuche das Leben des Mannes eventuell hätten retten oder zumindest verlängern können. Also berichtete mein Kollege von der Ausbildung der Totenstarre, von Totenflecken und ihrer Ausprägung sowie von den Messergebnissen der Rektal- und Umgebungstemperatur und grenzte so die wahrscheinliche Todeszeit des
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