Der Totenleser
einwirkenden Schwerkraft – an der Körpervorderseite wieder zum Vorschein.
Ebenfalls von Belang für die Todeszeitbestimmung: Innerhalb derersten zwanzig Stunden kann man Leichenflecken für kurze Zeit verschwinden lassen, indem mit dem Finger oder einer Pinzette auf die entsprechende Hautregion gedrückt wird. Für diesen Umstand haben sprachbegabte Leute vom Fach das schöne Wort »Wegdrückbarkeit« erfunden. Wie das Ganze aussieht, können Sie selbst simulieren, beispielsweise im Sommer, wenn Sie mit einem Finger kurz auf Ihren Sonnenbrand drücken: Für den Augenblick verflüchtigt sich die Rötung, kehrt nach dem Loslassen aber sofort wieder zurück. Das biologische Phänomen ist bei Leichenflecken wie Sonnenbrand insofern dasselbe, als in beiden Fällen eine vermehrte Blutansammlung in den Gefäßen der betroffenen Hautregion auf Druck hin bewegt und damit »verschoben« wird. Nur ist die vermehrte Durchblutung beim Sonnenbrand eine (gesunde) Reaktion des lebenden Organismus auf die thermische Reizung durch die Sonne, während Leichenflecken dadurch entstehen, dass der Blutkreislauf gestoppt hat und das Blut in den Gefäßen nicht weitertransportiert wird.
Zweites zentrales Kriterium bei der Todeszeitbestimmung ist die Leichenstarre. Auch die beginnt wie die Bildung der Leichenflecken etwa dreißig Minuten nach dem Tod. Als Erstes manifestiert sich die Starre im Kiefergelenk, tritt dann in den Schulter- und Ellen bogengelenken auf und lässt sich nach etwa zwei bis vier Stunden auch in den Hüft- und Kniegelenken feststellen. Nach etwa zwei Tagen löst sie sich allmählich wieder. Danach sind die großen und kleinen Gelenke des Körpers wie Ellenbogen-, Finger- und Kniegelenke wieder frei beweglich, Arme und Beine wie Finger und Zehen lassen sich durch den Untersucher wieder beugen und strecken. Warum es zu der zwischenzeitlichen Leichenstarre kommt, konnte bis heute noch niemand biologisch überzeugend erklären.
In diesem Zusammenhang möchte ich gern mit einem populären Irrtum aufräumen: Viele Menschen glauben, dass man an dem Gesichtsausdruck eines Toten ablesen kann, ob er friedlich eingeschlafen ist oder ob die letzten Augenblicke seines Lebens qualvoll waren. Doch das ist leider – oder zum Glück? – nicht möglich, denn im Augenblick des Todes, also mit dem letzten Herzschlag, kommt es zu einer vollständigen Erschlaffung der gesamten Muskulatur. Anschließend festigt die zunehmende Leichenstarre genau den Ausdruck, der mit der Erschlaffung aller Muskeln und damit auch der Gesichtsmuskeln entstanden ist. Stirbt jemand im Sitzen, wird die Leichenstarre folglich die in Hüft- und Kniegelenken angewinkelten Beine in dieser Stellung »fixieren«, bei einem Erhängten wird die Leichenstarre den gesamten Körper in gestreckter Position halten. Ein geöffneter Mund oder weit geöffnete Augen bei einem Toten bedeuten also nicht, dass er oder sie im Angesicht des Todes einen Schreckensschrei ausgestoßen oder die Augen vor Angst aufge rissen hat, sondern lediglich, dass der Tod in sitzender oder stehender Position eingetreten ist. Wegen des nicht mehr vorhandenen Muskeltonus sind Unterkiefer und Unterlider der Schwerkraft folgend nach unten geklappt, bevor die Leichenstarre sie erfasst hat und wie einen Gesichtsausdruck wirken lässt. Aus diesem Grund werden in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen teils auch heute noch verstorbenen Patienten sogenannte »Kinnbinden« – nichts anderes als mehrmals um den Kopf gewickelte Mullbinden – angelegt, um rechtzeitig vor der eintretenden Starre den Mund des Toten zu schließen.
Eine weitere Methode zur Todeszeitbestimmung ist die Reizung der Gesichtsmuskulatur per Stromstoß. Zu diesem Zweck befindet sich in dem sogenannten Tatortkoffer des Rechtsmedizinischen Instituts, den ich zu jedem Leichenfundort mitnehme, ein speziell dafür konstruiertes batteriebetriebenes Reizstrom-gerät. Dessen Nadelelektroden werden an den inneren und äußeren Lidwinkeln des Toten befestigt. Innerhalb von sechs bis etwa acht Stunden nach dem Tod reagieren die Gesichtsmuskeln noch auf die elektrischen Reize, danach nicht mehr. Führen die Impulse zu keinerlei Reaktion, weiß ich, dass die oder der Betreffende länger tot ist.
Die Pupillen eines Menschen reagieren noch bis zu zwölf Stunden nach dem Tod mit Verengung oder Erweiterung auf das Einträufeln entsprechender Augen tropfen, unter bestimmten Umständen auch noch einige Stunden länger. Allerdings ist eine mögliche
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