Der Totenleser
Opfers ein.
Einer der Anwälte war mit dem Resultat der Berechnungen nicht zufrieden – es belastete seinen des Totschlags angeklagten Mandanten – und meldete Widerspruch an: »Es ist doch eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Armbanduhr, die der Mensch, der stirbt, trägt, zum Zeitpunkt des Todes stehenbleibt. Wie spät war es denn nun auf der Uhr des Toten, als Sie am Leichenfundort eintrafen?«
Mein Kollege muss auf diese Frage hin sehr verdutzt ausgesehen haben. Da er nicht antwortete, wiederholte der Anwalt seine Frage. Mein Kollege sah zum Richtertisch und fragte die Vorsitzende Richterin, ob er tatsächlich auf so eine Frage antworten müsse. Doch vom Richtertisch kam keine Unterstützung, stattdessen fragte die Vorsitzende Richterin nun ihrerseits: »Kann es sein, dass ein Zusammenhang zwischen Tod und Uhrzeit auf der Armbanduhr besteht?«
Wenn ich diese Geschichte in der Vorlesung erzähle, ist die Erheiterung jedes Mal groß. Und eine Studentin schlug lachend vor, dazu doch mal die Hersteller von Armbanduhren zu befragen. Dem kann ich mich nur anschließen …
Wie alle, die ihre Arbeit so gut wie möglich machen wollen, müssen auch wir Rechtsmediziner uns ständig weiterbilden, damit wir methodisch auf dem neuesten Stand sind. Trotz aller Bemühungen, aller Schulungen und Vorträge hinken wir echten Rechtsmediziner dabei aber, wie es scheint, immer unseren Kollegen in Film und Fernsehen weit hinterher.
Immer wieder bin ich überrascht über die unglaublichen technischen Innovationen, die dort angewandt werden, aber auch darüber, dass die Rechtsmediziner im Fernsehen mit den simpelsten Methoden auf die Minute genau feststellen können, wann genau jemand gestorben ist. Am eindrücklichsten ist mir dabei eine Szene aus einer Tatort -Folge in Erinnerung, in der der Rechtsmediziner seine Hand auf die Fußsohle des Toten legte und so die Todeszeit präzise festlegen konnte. Leider müssen meine realen Kollegen und ich ohne diese hellseherischen und teils übernatürlichen Fähigkeiten der fiktiven Kollegen auskommen. Unsere Methoden im wirklichen Leben sind ein klein wenig komplizierter und führen trotzdem nicht immer zu exakten Ergebnissen. Vielleicht möchten Sie sie ja trotzdem kennenlernen:
Zunächst einmal: Die Untersuchungen zur Eingrenzung der Todeszeit führen wir grundsätzlich am Leichenfundort durch, niemals im Sektionssaal. Wenn wir damit bis zur Obduktion warten würden, hätten wir deutlich weniger Entscheidungskriterien zur Verfügung – Sie werden sehen, warum. Allerdings lassen sich vorgenommene Einschätzungen durch Obduktionsergebnisse oft bestätigen oder manchmal auch widerlegen.
Außerdem gilt immer: Die verschiedenen Methoden zur Todeszeitbestimmung werden nicht wahlweise – z.B. je nach Fähigkeit und Neigung des Rechtsmediziners – eingesetzt, sondern in Kombination miteinander. Eine Methode allein würde viel zu vage Ergebnisse liefern. Hier nun die Methoden im Einzelnen:
Bei der Todeszeitbestimmung überprüfe ich wie jeder andere Rechtsmediziner, der zu einem Tatort gerufen wird, als Erstes, ob Leichenflecken (synonym auch als »Totenflecken« bezeichnet) vorhanden sind und ob die Leichenstarre (oder »Totenstarre«) schon eingesetzt hat. Etwa dreißig Minuten nach dem Tod kommt es zum ersten nachweisbaren Auftreten von Leichenflecken. Wenn das Herz nicht mehr schlägt, der Blutkreislauf also aussetzt, werden die roten Blutzellen, die dem Blut und auch den Leichenflecken ihre Farbe geben, nicht mehr weitertransportiert und sinken in den Gefäßen entsprechend der Schwerkraft ab.
Leichenflecken treten zunächst als kleine blauviolette Flecken auf, die dann zunehmend größer werden – sie »konfluieren« (lateinisch confluere = zusammenfließen), wie wir dieses Phänomen nennen. Lag der Verstorbene zum Zeitpunkt des Todes auf dem Rücken und wurde seither nicht umgedreht, bilden sich die Leichenflecken am Rücken. Der Umkehrschluss ist leider nicht möglich. Finden sich bei einem Toten die Leichenflecken am Rücken, heißt das noch lange nicht, dass er zum Todeszeitpunkt auf dem Rücken lag. Der Grund: Innerhalb der ersten sechs bis zwölf Stunden nach dem Tode lassen sich Leichenflecken noch »umlagern«. Wenn der Körper eines Menschen, der auf dem Rücken liegend gestorben ist, innerhalb der nächsten Stunden in Bauchlage gedreht wird, verschwinden die Leichenflecken an der Körperrückseite und kommen – entsprechend der auf die roten Blutkörperchen
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