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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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nicht erst verdächtigt zu werden – weil er für die falsch ermittelte Todeszeit ein Alibi hat.
    Bei Kinderleichen gelten grundsätzlich andere Gesetzmäßigkeiten als bei Erwachsenen: Sie kühlen schneller aus, da sie im Verhältnis zur Körpergröße eine größere Körperoberfläche haben. Deshalb können unsere üblichen Berechnungsmethoden zur Todeszeit nicht angewendet werden.
    Massiver Blutverlust vor dem Tod führt oft dazu, dass Leichenflecken sich nur sehr spärlich, viel langsamer oder gar nicht manifestieren. Bei zu eiliger oder oberflächlicher Untersuchung ist das Resultat schnell mal um einen halben oder ganzen Tag verfälscht. Weiterhin gibt es Vergiftungen und Muskelerkrankungen, die nicht nur Einfluss auf das Eintreten der Leichenstarre und ihrer Intensität haben, sondern auch auf die postmortale Erregbarkeit der mimischen Muskulatur mittels Reizstrom.
    Ohne noch weiter ins Detail zu gehen: Die Unwägbarkeiten bei der Todeszeitbestimmung sind zahlreich. Bedenkt man zudem, dass manche Informationen oft zum Zeitpunkt der rechtsmedizinischen Untersuchungen nicht einmal bekannt sind (und es auch oft gar nicht sein können, Stichwort: Umgebungstemperatur), bedarf es schon einer geballten Ladung Phantasie und Optimismus, will man behaupten, man könne den Todeszeitpunkt eines Menschen im Nachhinein auf die Minute genau festlegen.
    Technikgläubige mögen erwarten, dass man nur lange und intensiv genug forschen muss, um eines Tages exakte Resultate liefern zu können. Ich persönlich wage das zu bezweifeln. Ganze Generationen von Rechts medizinern haben sich seit vielen Jahrzehnten mit der Erforschung von Methoden zur Feststellung der Todeszeit beschäftigt. Trotzdem ist eine nähere Eingrenzung als auf plus oder minus zwei Stunden nicht möglich. Und selbst dieser seltene Optimalfall ist nur innerhalb von etwa vierundzwanzig Stunden nach dem Tod möglich. Sobald die Leichenfäulnis einsetzt, sind alle beschrie benen Untersuchungsmethoden nicht mehr einsetzbar.
    Vor diesem Hintergrund habe ich Verständnis für die kreativen Bemühungen von Drehbuchautoren, würde doch die realitätsnahe Darstellung der Todeszeitbestimmung schon einen Großteil der Spielfilmzeit füllen. Ein Klassiker ist ja die Untersuchung des Mageninhalts. Um anhand einer Mageninhaltsanalyse den Todeszeitpunkt eines Menschen sicher eingrenzen zu können, muss man präzise wissen, was genau und wann genau und wie viel genau das Todesopfer zum letzten Mal gegessen hat. Aber wann ist das in der Realität schon mal der Fall?

TödlicheLust
    Schon viermal hatte die 20-jährige Nicole Werth an diesem Ostersonntag versucht, ihren 23-jährigen Freund Christian Blank zu erreichen, auch per SMS. Vergeblich. Normalerweise reagierte Christian sofort auf eine Nachricht von ihr. Auf seinem Handy schaltete sich nur die Mailbox ein, auf der sie bereits einige Nachrichten hinterlassen hatte. Als sie am Morgen des Ostermontags noch immer kein Lebenszeichen von Christian erhalten hatte, rief sie bei seinen Eltern an. Sein Vater, der 52-jährige Georg Blank, war wie immer wortkarg und kurz angebunden. Man habe von Christian auch schon einige Tage nichts gehört. Zumindest einen kurzen Ostergruß, das hätten er und Christians Mutter von ihm schon erwartet.
    Nicole Werth wusste, dass Christians Vater einen Zweitschlüssel zu dessen Wohnung hatte, einer Zweizimmerwohnung nur wenige Querstraßen von seinen Eltern entfernt. Nach mehrmaligem Bitten willigte der Vater ein, bei seinem Sohn vorbeizuschauen, und versprach, sich noch im Laufe des Tages bei Nicole zu melden.
    Zwei Stunden später öffnete Georg Blank, nachdem er einige Male vergeblich geklingelt hatte, die Tür zur Wohnung seines Sohnes. Dabei fiel ihm auf, dass die Wohnungstür nicht abgeschlossen war, sondern lediglich ins Schloss gezogen. Ansonsten erschien ihm zunächst nichts ungewöhnlich. Die Küche, in die er nur einen kurzen Blick warf, als er den kleinen Flur in Richtung Wohnzimmer durchquerte, war leer und aufgeräumt. Auch im Wohnzimmer stellte er nichts Auffälliges fest, die Sofakissen lagen sauber aufgeschüttelt auf dem Sofa, und mehrere Zeitschriften lagen ordentlich übereinandergestapelt auf dem Couchtisch davor. Die Balkontür der im ersten Obergeschoss gelegenen Wohnung war zwar nicht verschlossen, sondern stand halb offen, aber auch hier schien alles wie immer zu sein.
    Als Georg Blank jedoch das Schlafzimmer seines Sohnes betrat, blieb er wie angewurzelt stehen. In dem zirka

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