Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
Vom Netzwerk:
Reaktion erst eine halbe Stunde nach der Verabreichung feststellbar, weshalb es sich empfiehlt, diesen Test nicht zum Abschluss durchzuführen, es sei denn, man möchte sich eine Zwangspause gönnen – und alle anderen Ermittler vor Ort gegen sich aufbringen.
Die zuverlässigste Methode zur Bestimmung der Todes zeit ist die Bestimmung der Differenz zwischen der am Leichnam gemessenen Körperkerntemperatur und der Umgebungstemperatur am Leichenfundort. Die Umgebungstemperatur wird hierbei an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Höhen über dem Fußboden gemessen, anschließend wird aus den einzelnen Messwerten der Mittelwert errechnet. Für die Messung benutzen wir ein speziell dafür entwickeltes elektronisches Thermometer (»Tatortthermometer«) mit einer zirka fünfzehn Zentimeter langen, aber nur wenige Millimeter dicken Mess-Elektrode aus Metall. Durch seine spezielle Konstruktion kann es nicht nur die Raumtemperatur ermitteln, sondern auch zur Rektalmessung in den Enddarm des Verstorbenen eingeführt werden. Die Abkühlung des menschlichen Körpers folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die eine Rückrechnung auf den ungefähren Todeszeitpunkt ermöglichen. Ausgangswert ist die übliche Körperkerntemperatur des Menschen, also knapp 37 Grad Celsius. Nach dem Tod bleibt die Körperkerntemperatur zunächst etwa dreiStunden lang annähernd konstant. Danach verringert sich die Temperatur des Leichnams um zirka ein Grad Celsius pro Stunde. Entsprechend lassen sich aus der Differenz Rückschlüsse auf die Todeszeit ziehen. Allerdings wird die eigentlich einfache Rechnung durch verschiedene individuelle Umgebungsfaktoren wie Bekleidung, Körpergewicht und Körperproportionen und die Umgebungsbedingungen wie Witterung im Freien und Zugluft in geschlossenen Räumen etwas komplizierter. Entsprechend fragt das Computerprogramm zur Todeszeitbestimmung die Daten aller dieser möglichen Einflussfaktoren ab, errechnet daraus einen eventuellen Korrekturfaktor und bezieht diesen in die Berechnungen mit ein. All die Liebesmüh von Mensch und Maschine ist allerdings vergebens, wenn jemand zwischen Todeszeitpunkt und Temperaturmessung die Fenster aufgerissen hat, denn die Temperaturmethode setzt voraus, dass die Raum- beziehungsweise Umgebungstemperatur in der besagten Zeit relativ konstant geblieben ist. Rettungssanitäter, die meist die Ersten am Leichenfundort sind, haben manchmal die Angewohnheit, ein Fenster zu öffnen, »damit die Seele entweichen kann«. Ob dieser Brauch nun religiös motiviert ist oder zum persönlichen Berufsethos gehört – er erschwert uns leider die Arbeit. Aber zum Glück agieren die meisten Rettungssanitäter zweckdienlicher.
    Oft hält sich an einem Tatort auch eine ganze Arma da von Rettungskräften, Polizeibeamten undKriminaltechnikern auf, was die Raumtemperatur zumindest in kleineren Räumen schnell ansteigen lässt. Auch das Ein- und Ausgehen der Ermittler oder offenstehende Haus- oder Wohnungstüren verfälschen nicht selten die Resultate.
    Wenn alle diese Untersuchungen abgeschlossen sind, kommt der Laptop des Rechtsmediziners zum Einsatz. Auf ihm ist ein spezielles Programm zur Todeszeit bestimmung installiert. Ich muss alle wichtigen Informationen und Messergebnisse in die dafür vorgesehene Tabelle eingeben, also Leichenstarre, Leichenflecken, elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur, (fehlende) Pupillenreaktion, Körpertemperatur, Bekleidung und Umgebungsbedingungen. Aus diesen Parametern berechnet das Programm dann eine ungefähre Todeszeit.
    Sie sehen also, die Eingrenzung der Todeszeit ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Und selbst bei sorgfältigster Durchführung gibt es noch jede Menge Unwägbarkeiten, die einer präzisen Angabe im Weg stehen. Neben den bereits beschriebenen gehören dazu noch andere potentielle Störfaktoren, die der Rechtsmediziner in seine Berechnungen zur Todeszeit mit einbeziehen muss, da er sonst gegebenenfalls zu völlig falschen Ergebnissen gelangt.
    Was ist zum Beispiel, wenn ein Mensch kurz vor seinem Tode fast 42 Grad Celsius Fieber hatte? Dann wird bei der Temperaturmethode trotz korrekter Rückrech nung eine zu späte Todeszeit ermittelt, weil der zum Todeszeitpunkt fünf Grad wärmere Körper etwa fünf Stunden länger zum Abkühlen braucht als im Normalfall. Ist die Tatsache, dass das Opfer eines Tötungsdeliktes vor seinem Tod an hohem Fieber litt, zum Zeitpunkt der Todeszeitbestimmung unbekannt, hat ein Täter gute Chancen, gar

Weitere Kostenlose Bücher