Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
Vom Netzwerk:
hier zweifelsohne auch abgespielt. Nachdem ich meine Untersuchungen abgeschlossen und wie immer per Diktiergerät dokumentiert hatte, wandte ich mich an den jungen Polizeimeister. Er hatte die ganze Zeit über jeden meiner Schritte aus einiger Entfernung sehr genau beobachtet, sich aber offensichtlich nicht getraut, Fragen zu stellen. Dabei sah man ihm seine Wissbegierde deutlich an.
    »Kein Suizid«, sagte ich, »der Mann hat sich nicht das Leben genommen.« Der Polizeimeister zog die Augenbrauen hoch und sah mich perplex an. »Dann war es also Mord?«
    Aber ich musste ihn schon wieder enttäuschen: »Nein, ein Mord war’s auch nicht. Es war ein Unfall. Genauer gesagt, ein ›autoerotischer Unfall‹.«
    Der Begriff »autoerotischer Unfall« steht in der Rechtsmedizin für einen versehentlichen Todesfall bei Masturbationshandlungen. Opfer sind fast ausschließlich Männer. Die häufigste Todesursache bei autoerotischen Unfällen ist Ersticken als Folge von Selbsterdrosseln oder Erhängen. Der Hintergrund: Sauerstoffmangel des Gehirns führt bei manchen Menschen zu sexueller Erregung. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass Männer während der Selbstbefriedigung versuchen, sich durch »dosiertes« Drosseln oder Hängen einen zusätzlichen Lustgewinn zu verschaffen. Was leicht fatale Folgen haben kann, da eine »dosierte« oder »kontrollierte« Strangulation nur begrenzt möglich und daher immer riskant ist: Sobald der Betreffende aufgrund von Sauerstoffmangel bewusstlos wird, verliert er auch jegliche Kontrolle, hat keine Chance mehr, sich zu befreien, und wird zwangsläufig sterben. Und im Voraus kann niemand mit Bestimmtheit sagen, wie schnell und wann die Bewusstlosigkeit eintreten wird.
    Aus verschiedenen Kulturen und Jahrhunderten gibt es gesicherte Berichte, dass bei Hinrichtungen durch den Strang bei manchen Gehenkten im Augenblick des Todeskampfes eine Erektion beobachtet wurde. Die wohl älteste Darstellung dazu stammt aus der Zeit der Hochkultur der Mayas. Auf einem über dreitausend Jahre alten Relief an der Ruine eines Maya-Palastes auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán ist ein Mann mit einem Seil um den Hals und einem erigierten Penis abgebildet.
    Bisher ist wissenschaftlich noch nicht genau geklärt, warum Sauerstoffmangel im Gehirn bei manchen, aber offensichtlich nicht bei allen Menschen mit einer gesteigerten sexuellen Erregung, einem vermehrten Lustempfinden und einem intensiver erlebten Orgasmus verbunden ist. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Sauerstoffmangel zu einer direkten Freisetzung erregend wirkender Neurotransmitter (biochemische Substanzen, die Signale zwischen Nervenzellen vermitteln) und damit zu einer Reizung des limbischen Systems des Gehirns führt, dem wohl beim menschlichen Sexualverhalten und -erleben eine tragende Rolle zukommt. Andere meinen, dass eine gestörte Funktion der gegenüber Sauerstoffmangel sehr empfindlichen Großhirnrinde dafür verantwortlich ist: Die verliert, so die Theorie, durch die gebremste Zufuhr ihren sonst hemmenden Einfluss auf die für die Sexualität zuständigen Nervenzentren, wo durch diese »Sexualzentren« im Gehirn sozusagen »die Oberhand gewinnen«. Aber wie dem auch sei, letztlich ist dies nur eine akademische Frage, deren Beantwortung keinen praktischen Nutzen für unsere rechtsmedizinische Arbeit hätte. Das Phänomen als solches ist unumstritten, immer wieder wurde und wird von Autoerotik praktizierenden Männern der Orgasmus unter Sauerstoffmangel als regelrechter »Kick« beschrieben, der süchtig mache nach mehr und immer mehr.
    Nicht immer gehen autoerotische Praktiken mit Drosseln oder Aufhängen einher. In einigen wenigen Fällen wurde ein tödlicher autoerotischer Unfall beispielsweise durch den Einsatz von Strom verursacht. Dabei reizen die Betreffenden unmittelbar ihre Genitalien oder andere erogene Körperregionen wie den Anus mittels elektrischer Stimulation aus eigens dafür konstruierten Apparaten.
    Die autoerotische Betätigung, die selten zu Unfällen führt, aber wenn, dann gar nicht so selten mit tödlichem Ausgang, geht über Masturbation im herkömmlichen Sinne weit hinaus. Entsprechend wird an den Unfall orten meist eine umfangreiche Ausrüstung gefunden. Dazu gehören zum Beispiel Spiegel, Videokameras oder Fotoapparate zur Aufzeichnung der eigenen autoerotischen Aktivitäten, teilweise bizarre Dekorationen der Szenerie mit fetischartigen Accessoires und porno graphischen Abbildungen an den Wänden. An

Weitere Kostenlose Bücher