Der Totenleser
zwanzig Quadratmeter großen Schlafzimmer hing eine lebensgroße Gummipuppe zwischen dem Bett und einem Kleiderschrank mit Spiegelfront von der etwa zweieinhalb Meter hohen Decke, aufgehängt an einer roten Hundeleine um den Hals. Die Gummipuppe war täuschend echt gemacht und stellte einen weiblichen Körper dar. Der Kopf der Puppe befand sich auf halber Höhe, während beide Knie den Schlafzimmerboden berührten. An den Beinen trug sie bis jeweils zur Mitte der Oberschenkel reichende schwarze Lackstiefel mit grotesk hohen Absätzen. Die Frauenpuppe war leicht zur rechten Körperseite geneigt, der Oberkörper nur halb aufgerichtet. Der Kopf fiel dabei nach vorne auf die Brust, die um ihren Hals gebundene Hundeleine war an einem Haken an der Decke befestigt. In dieser Haltung wurde das Gesicht von den schulterlangen, leicht gewellten roten Haaren vollständig verdeckt. Das rosafarbene Korsett mit schwarzem Spitzenbesatz war eng geschnürt, die Strapse daran mündeten in pinkschwarze Netzstrümpfe.
Georg Blank, der von seinem Sohn früher mehrmals als kleinbürgerlich und phantasielos bezeichnet worden war, schüttelte den Kopf darüber, mit welch ungewöhnlichem Spielzeug sich sein Sohn in seiner Freizeit zu Hause so beschäftigte. Aber vielleicht war das ja heutzutage bei jungen Menschen normal, dachte er. Sein eigenes Leben verlor allerdings jegliche Normalität, als Georg Blank in die volle rote Haarpracht des vermeintlichen Spielzeugs griff, um das Gesicht zu sich zu drehen. Dabei löste sich nämlich das Haupthaar vom Kopf der »Puppe« und blieb als Perücke in seiner Hand zurück. Darunter kam das Gesicht seines Sohnes zum Vorschein, der ihn aus toten Augen ansah.
Als ich vierzig Minuten später eintraf, öffnete mir ein junger Polizeimeister die Tür und empfing mich mit den Worten: »Das ist echt der verrückteste Suizid, den ich je gesehen habe.« Der ebenfalls anwesende Kriminaloberkommissar, der kurz vor mir angekommen war, hob nur die Augenbraue und nickte mir bedeutungsvoll zu. Nach fast dreißig Dienstjahren hatte er jede Menge Erfahrung als Todesermittler, und seiner Reaktion entnahm ich, dass er in diesem Fall nicht eine Sekunde an einen Freitod glaubte. Und nach dem, was ich bereits am Telefon gehört hatte, als ich im Institut über diesen Leichenfundort informiert worden war, schloss ich mich seiner Einschätzung an.
Wir streiften uns die weißen Overalls der Spurensicherung, Plastiküberziehschuhe und Gummihandschuhe über und gingen in das Schlafzimmer, in dem Georg Blank die Leiche seines Sohnes gefunden hatte. Der bizarr gekleidete Tote lag jetzt auf dem Schlafzimmerboden neben dem Bett, unterhalb der Stelle, an der er gehangen hatte. Der Notarzt und zwei Rettungssanitäter hatten ihn von der Hundeleine abgeschnitten, konnten aber nichts mehr für den jungen Mann tun – die kräftig ausgeprägten Leichenflecken verrieten zweifelsfrei, dass er schon seit längerer Zeit tot war.
Bei einem ersten Blick auf den Toten sah ich, dass sich die dunkelvioletten Leichenflecken alle auf den rechtsseitigen Körperpartien befanden, also an der Außenseite des rechten Beines, der Innenseite des linken Beines sowie auf der rechten Seite von Brust und Rücken. Demnach war Christian Blank entweder in der halb hängenden, leicht zur rechten Körperseite geneigten Haltung gestorben, in der ihn sein Vater gefunden hatte, oder jemand hatte die Leiche unmittelbar nach Eintritt des Todes in dieser Position aufgehängt.
Bevor ich mit der eigentlichen äußeren Leichenschau begann, sah ich mich in dem Schlafzimmer um. Vorausgesetzt, dass Erhängen die Todesursache war, musste sich der Todeskampf des jungen Mannes genau vor der Spiegelfront des Kleiderschranks abgespielt haben – also quasi vor seinen eigenen Augen. Von dem Haken, der oberhalb des Toten in die Schlafzimmerdecke gedübelt war, hing noch der Rest der vom Notarzt durchgeschnittenen roten Hundeleine herunter. Mir fiel auf, dass sich neben diesem Metallhaken noch zwei weitere befanden. Beide waren nach unten hin deutlich aufgebogen, was mich vermuten ließ, dass sie zu ähnlichen Zwecken benutzt worden waren – wahrscheinlich mehr als ein Mal.
Wir staunten nicht schlecht, als ein Kollege von der Spurensicherung in zwei sehr geräumigen Wäschekommoden im Schlafzimmer sechsundzwanzig verschiedene, fein säuberlich in den Schubladen der Kommoden einsortierte Outfits ähnlich der jetzigen Kleidung des Toten entdeckte: Korsetts in den
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