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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Besorgnis nehmen zu können, ohne daraus einen polizeilichen Vorgang mit all dem damit verbundenen »Schreibkram« machen zu müssen. In seinem Büro angekommen, bat er sie, sich zu setzen, und untersuchte den gepolsterten Hocker, der jetzt kopfüber, mit der Sitzfläche nach unten, auf dem Teppich stand. Mit einer Schere öffnete er das erste der vier in Plastiktüten eingewickelten und mit schwarzem Klebeband fest verschnürten Päckchen und schreckte augenblicklich vor dem Gestank zurück. Als er sich überwand, einen Blick zu riskieren, sah er zunächst nur eine undefinierbare grünbraune Masse. Als er dann daneben einen winzigen Kopf entdeckte, zusammen mit Hals, Brust und einem Arm, wich ihm augenblicklich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Sofort verschloss er den Beutel wieder, riss das Fenster auf und ging zum Telefon, um die Mordkommission zu alarmieren.
    Im Institut für Rechtsmedizin sahen wir bereits dem Feierabend entgegen, als der zuständige Beamte der Mordkommission uns darüber informierte, dass mehrere Pakete mit kindlichen Leichenteilen, zum Teil nur noch Knochen, auf dem Weg zu uns waren. Da ich den Mordermittler gut kannte, ahnte ich, dass die Sache ernst war. Dieser Verdacht bestätigte sich, als wir eine knappe Stunde später den Fund in vier Stahlwannen vor uns ausbreiteten.
    Vor uns lagen die sterblichen Überreste von mehreren sehr kleinen Kindern, jeweils in unterschiedlichen Stadien von Leichenfäulnis, Verwesung und Skelettierung.
    Von zwei Kindern waren nur noch blanke Knochen übrig, an den Knochen des dritten Kindes hing noch vereinzelt aufgeweichtes Gewebe. Die Babyleiche in dem vierten Päckchen, in demjenigen, das Polizeihaupt meister Kannenberg inspiziert hatte, war trotz Fäulnis erscheinungen als Einzige deutlich als solche zu erkennen. Neben Rumpf mit Kopf, Hals und rechtem Arm fanden wir noch große Teile des Beckens und des rechten Beines.
    Keiner von uns konnte sein Entsetzen verbergen, aber nachdem wir eine Weile schweigend auf den Sektions tisch gestarrt hatten, machten wir uns an die Arbeit. Als Erstes ordneten wir in den dafür gebräuchlichen Edelstahlwannen die blanken Knochen aus den ersten beiden Päckchen nach Körperteilen, um festzustellen, ob Knochen fehlten oder überzählige Knochen vorhanden waren – also nicht alle zu ein und demselben Kind gehör ten. Dabei suchten wir gleichzeitig systematisch nach Verletzungsspuren, die uns vielleicht einen Hinweis auf die Todesursache geben könnten. Das Resultat: Beide Päckchen enthielten die sterblichen Überreste jeweils eines Kindes, Verletzungsspuren fanden sich keine.
    Anschließend widmeten wir uns der noch weitgehend erhaltenen Babyleiche, um vielleicht Hinweise auf etwaige Organmissbildungen oder Erkrankungen zu erhalten. Doch die inneren Organe einschließlich des Gehirns erwiesen sich als zu aufgeweicht für eine nähere Untersuchung. Nachdem wir uns überzeugt hatten, dass auch die noch intakten Hautpartien keine Defekte aufwiesen – zum Beispiel als Folge von Stichverletzungen –, präparierten wir die Knochen des dritten und vierten Kindes: d. h., wir befreiten sie von allem Weichgewebe und reinigten sie gründlich, aber behutsam. Wie schon zuvor bei den beiden vollständig skelettierten Kindern entdeckten wir auch hier keinerlei Verletzungsspuren.
    Schließlich berechneten wir aus der Länge der Oberschenkelknochen jeweils die Körperlängen der einzelnen Kinder zum Zeitpunkt ihres Todes. Das kleinste der Kinder war gut 48 Zentimeter, das Größte 54 Zentimeter lang gewesen. Das bedeutete, dass jedes von ihnen zum Zeitpunkt des Todes entweder bereits geboren oder zumindest kurz davor gewesen war, auf die Welt geholt zu werden. Ob männlich oder weiblich, konnten wir nicht feststellen, aber das würde uns später die DNA-Analyse beantworten können.
    Aus den unterschiedlichen Stadien postmortaler Leichenveränderung – Leichenfäulnis, Verwesung, Teilskelettierung, vollständige Skelettierung – konnten wir schließen, dass die Kinder zu unterschiedlichen Zeiten gestorben waren. Woran oder unter welchen Umständen, ließ sich nicht mehr feststellen. Auch konnten wir nicht sagen, ob sie lebend oder bereits tot zur Welt gekommen waren oder wie lange ihr jeweiliger Tod zurücklag. Fest stand lediglich, dass alle vier Kinder mindestens bis zur Geburtsreife entwickelt waren.
    Im Sektionssaal konnten wir nichts weiter tun. Nun musste unsere Abteilung Forensische Genetik mittels DNA-Analysen klären, ob die

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