Der Totenleser
Dunkelziffer von Neonatiziden – so der Fachbegriff für das Töten eines Neugeborenen – ist sehr hoch, das führen uns allein schon die erst Jahre oder Jahrzehnte nach der eigentlichen Tat bekannt gewordenen Fälle immer wieder eindringlich vor Augen. Insofern würden amtliche Statistiken, selbst wenn sie verfügbar wären, nur ein bruchstückhaftes und damit verfälschtes Bild zur Häufigkeit dieser Delikte abgeben.
Während in Bezug auf genauere Analysen Vorsicht gebotenist, lässt sich eines mit absoluter Sicherheit sagen: Es gibt heutzutage sehr viel weniger Fälle von Neugeborenentötungen durch die eigene Mutter als früher. Die Rechtsmediziner vergangener Jahrhunderte hatten nahezu täglich mit aufgefundenen Babyleichen zu tun, und zu klären war dabei stets die Frage, ob es sich um eine Kindstötung oder die Folge einer illegalen Abtreibung handelte. Eine solche Fragestellung ist in unserer rechtsmedizinischen Praxis heute die Ausnahme. Das sieht man auch daran, dass in rechtsmedizinischen Lehrbüchern die Kapitel über die Obduktion und Untersuchung Neugeborener vor einigen Jahrzehnten noch mehrere Dutzend Seiten einnahmen, heute sind es nicht mal mehr eine Handvoll. Grund für die Abnahme von Kindstötungen ist die heute viel geringere Häufigkeit ungewollter Schwangerschaften aufgrund sexueller Aufklärung und verhältnismäßig sicherer Verhütung sowie die Möglichkeit des legalen Schwangerschaftsabbruchs. Sogenannte Babyklappen, auch wenn nicht unumstritten, sowie ein breitgefächertes soziales Netzwerk, das jungen alleinerziehenden Müttern heute in Deutschland zur Verfügung steht, haben ihr Übriges dazu beigetragen. Vor allem ist in unserer Gesellschaft die Schwangerschaft einer ledigen Frau kaum noch ein Thema, geschweige denn ein Stein des Anstoßes. In Zeiten, in denen unverheiratete Paare ebenso normal sind wie alleinerziehende Mütter und Väter, ist ein uneheliches Kind kaum noch ein Grund, seine Existenz zu verheimlichen oder auch nur zu verschleiern. Wie anders die Situation früher war, ist unter anderem Thema in Goethes Faust . Eindrucksvoll zeigt dies auch ein Zitat aus Otto Heinrich von Gemmingen-Hornbergs Schauspiel Der deutsche Hausvater von 1779: »Wenn Karl mich je verlassen kann, dann, es ist schrecklich, aber dann morde ich mit eigenen Händen das Kind, das ich von ihm bekomme, das wird mütterliche Wohltat sein, und laß mich dann öffentlich hinrichten. Was soll denn ein elternloses Kind, ein entehrtes Mädchen, auf dieser Erde tun?«.
Darüber, was heutzutage die Mütter dazu treibt, ihre Kinder sterben zu lassen oder gar zu töten, lässt sich nur spekulieren. Trotz der geänderten Umstände dürfte der häufigste Grund auch heute noch eine ungewollte Schwangerschaft sein, so unfassbar einem das aus aufgeklärter Sicht auch vorkommen mag.
Gleichzeitig fällt auf, dass in den meisten Fällen die Mütter sich offenbar nicht von den getöteten Kindern trennen mögen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Babyleichen fast immer in ihrer unmittelbaren häus ichen Umgebung gefunden werden, meist in einer Kühltruhe, die auch noch die Fäulnis- und Verwesungsprozesse aufhält? Die Täterinnen hätten doch weit weniger zu befürchten, entdeckt zu werden, wenn sie ihre Opfer im Wald vergraben oder nachts auf einer Müllhalde entsorgen würden.
Während die zu vermutende emotionale Bindung der Mütter zu den toten Kindern schon fast etwas Tröstliches hat – wenn auch in äußerst geringem Maße –, ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den genannten Fällen eher erschreckend: Die Tat wurde meist Jahre vor der Entdeckung der Leiche verübt. Nicht nur die Schwangerschaft konnten die jeweiligen Mütter vor ihrem Umfeld, die werdenden Väter eingeschlossen, verheimlichen. Es war offenbar auch nicht schwer, dafür zu sorgen, dass niemand die bei ihnen zu Hause versteckten Leichen entdeckte. Oder waren die betreffenden Frauen den Menschen in ihrem direkten sozialen Umfeld so gleichgültig, dass es gar keines großen Versteckspiels bedurfte?
Wenn ein getötetes Baby sehr bald gefunden wird, ist das jedoch keineswegs ein Beleg für mehr Fürsorge seitens der Mitmenschen. Das hatte mir schon ein anderer Fall eindrücklich vor Augen geführt:
Die Mutter der gerade einundzwanzig Jahre alt gewordenen Janina Leistner entdeckte in deren Zimmer eine Reisetasche. Da ihre Tochter weder einen Urlaub geplant noch gerade hinter sich hatte, wunderte sie sich. Also bückte sie sich zur
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