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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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dort vergraben worden sein. Bekleidungsreste, die uns manchmal wertvolle Anhaltspunkte liefern, gab es keine. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder war die Kleidung dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, oder die Leiche der jungen Frau war unbekleidet dort verscharrt worden.
    Solange wir nicht ausschließen können, dass gefundene Knochen zu einer gegenwärtig vermisst gemeldeten Person gehören, bemühen wir uns in der Rechtsmedizin um eine mögliche Identifizierung. Dafür erstellen wir anhand der uns vorliegenden Skelettteile beziehungsweise Knochenstücke ein »anthropologisches Profil«, das die Kriminalpolizei anschließend mit ihrer Vermisstenkartei abgleicht. Aufgrund sehr vielfältiger und verschiedener Kriterien, wie zum Beispiel der Vermessung der Länge oder des Umfangs bestimmter Knochenabschnitte oder der Beurteilung von Gelenken und Knochenvorsprüngen, an denen Muskel ihren Ursprung nehmen, können wir auf das Geschlecht, das ungefähre Alter zum Zeit punkt des Todes, die Körpergröße, den Körperbau und in einem Teil der Fälle sogar auf bestimmte Erkrankungen schließen. Besonders wichtig ist die Untersuchung und Dokumentation der Zähne, falls vorhanden. Nicht nur kann der sogenannte Zahnstatus mit den zahnärztlichen Befunden vermisster Personen verglichen werden, die ins engere Raster passen. Aufgrund der Art und des Materials von Füllungen, Kronen, Inlays oder Brücken können wir häufig auch etwas zur ethnischen Herkunft des Toten sagen, denn die Zahnarbeiten in Deutschland unterscheiden sich beispielsweise erheblich von denen in osteuropäischen Ländern, was die verwendeten Materialien und die Art der Ausführung angeht.
    Selbstverständlich untersuchen wir Skelettfunde nicht nur auf Hinweise für eine mögliche Identifizierung, sondern auch auf Verletzungen. Finden sich Frakturen oder andere Beschädigungen an den Knochen, ist das aber noch lange kein Indiz für ein Verbrechen. Zunächst muss die Frage beantwortet werden, ob die Verletzungen überhaupt zu Lebzeiten des Betreffenden entstanden sind oder bei der Auffindung beziehungsweise Bergung. Typische »Bergungsartefakte«, wie wir entsprechende Verletzungen nennen, sind beispielsweise runde Einschläge, wie sie Spitzhacken am knöchernen Schädeldach verursachen können – und die man nicht mit ähnlich aus sehenden Schussverletzungen verwechseln darf –, sowie Kerben und Scharten an den Arm- und Beinknochen, die oft von Spatenstichen beim Aushub der Erde her rühren. Sobald wir feststellen, dass vorhandene Knochenverletzungen zu Lebzeiten entstanden sind, machen wir uns daran, die Art der Gewalteinwirkung heraus zufinden. Denn wenn sich diese als todesursächlich herausstellt – oder zumindest als wahrscheinliche Todesursache –, wird der Skelettfund tatsächlich ein Fall für die Mordermittler. Das allerdings ist bei all den Knochenfunden die absolute Ausnahme.
    Und oft müssen wir uns nicht einmal die eben beschriebene Arbeit machen – weil sich die Objekte, die uns zuvor als »Leichenfunde« angekündigt wurden, schon auf den ersten Blick als etwas ganz anderes herausstellen. So zum Beispiel in dem Fall eines vermeintlichen Fötus, der von einer Passantin in einer Toreinfahrt in Berlin-Mitte gefunden worden war. Der entpuppte sich bei uns im Institut als wenige Zentimeter großer Gummi-Alien, wie er von Spaßvögeln auf der ganzen Welt zu Halloween als Dekoration verwendet wird. Aber auch nicht jeder tote kindliche Körper, der sich als echt herausstellt, muss zwangsläufig bedeuten, dass sich hier ein Verbrechen abgespielt hat. So fanden zum Beispiel im März 2009 Jugendliche in einem Müllcontainer in Berlin-Lichterfelde einen in einem Glas mit Formalin eingelegten Fötus von knapp vierzig Zentimeter Länge. Wie sich herausstellte, stammte er aus dem Fundus einer nahe gelegenen Frauenarztpraxis. Der Fötus war ein fast hundert Jahre altes Sammlungsstück, das der Arzt vor sehr langer Zeit zusammen mit der Praxis von seinem Vorgänger übernommen hatte und das bei der Auflösung nicht sachgemäß entsorgt worden war.
    Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Polizeihauptmeister Kannenberg sich von dem vermeintlichen Knochenfund, wegen dem die junge Frau das schwere Möbelstück angeschleppt hatte, nicht aus der Fassung bringen ließ. Allerdings versprach er, sich die Sache gleich anzusehen, und bat zwei Uniformierte, den Hocker in sein Dienstzimmer zu tragen. Er war fest überzeugt, der Frau schon bald ihre

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