Der Totenleser
verstorbene Corinna Joosten, in deren Wohnung ihre Nachbarin die Überreste der toten Babys entdeckt hatte, überhaupt die Mutter der toten Kinder war. Dies war zwar naheliegend, aber es mussten alle anderen denkbaren Möglichkeiten ausgeschlossen werden – etwa dass die Babys von Neugeborenenstationen entführt waren oder mit illegaler Adoptionsvermittlung in Zusammenhang standen. Kurze Zeit später lieferte das Labor die gewünschten Informationen. Dort hatten unsere Mitarbeiter ein DNA-Profil erstellt und mit den DNA-Proben aus Corinna Joostens Bad – Zahnbürste und Kopfhaare – verglichen. Das Resultat: Corinna Joosten war die Mutter aller vier Kinder, von einem Sohn und drei Töchtern. Bei der chemisch-toxikologischen Untersuchung der in zwei Fällen noch vorhandenen Gewebereste wurden jeweils Spuren eines verschreibungspflichtigen Schmerzmittels sowie eines starken Schlafmittels gefunden. Da diese Substanzen von dem mütterlichen Blutkreislauf auf das ungeborene Kind übergehen, bedeutete das, dass Corinna Joosten diese Medikamente während dieser beiden Schwangerschaften eingenommen haben musste.
Kurz nachdem wir in der Rechtsmedizin unsere Arbeit an dem Fall beendet hatten, waren auch die übrigen polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen. Sie konnten die Geschichte hinter dem grausigen Fund jedoch nur sehr bruchstückhaft erzählen: Knapp drei Monate bevor Anthea Tatarou den Polsterhocker zum Polizeirevier trug, hatte sich ihre Nachbarin durch einen Sprung von einem zwölfstöckigen Bürogebäude im Zentrum Berlins das Leben genommen. Zu diesem Zeitpunkt war Corinna Joosten zweiundvierzig Jahre alt. In ihrer Handtasche, die sie in der Hand hielt, als sie sich in die Tiefe stürzte, steckte neben ihren Ausweispapieren auch ein Abschiedsbrief. Viele Einzelheiten standen nicht darin, doch endete er mit den Worten: »Ich habe eine schwere Last zu tragen«. Kurz nach ihrem Tod sagte ein Nachbar der Polizei gegenüber aus, er habe an der sonst auffallend schlanken Frau wenige Tage vor ihrem Tod einen Babybauch bemerkt und sie darauf angesprochen. Daraufhin habe sie ihm gesagt, sie hätte einen »Tumor im Bauch«. Dies war nach dem Tod von Corinna Joosten von den zuständigen Ermittlern als mögliches Suizidmotiv gewertet worden. Da es jedoch keine Hinweise auf eine mögliche Fremdeinwirkung gab, war seinerzeit keine Obduktion angeordnet worden, die hätte zutage fördern können, ob sie tatsächlich einen Tumor hatte – oder zum fünften Mal schwanger war.
Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung, unter anderem mit einem Leichensuchhund, fanden sich keine weiteren Leichenteile, weder in dem zu der Couchgarnitur gehörenden Schlafsofa,noch in einem der Schränke. Allerdings schlug der Hund auf die Kühltruhe in der Küche an. Als der anwesende Beamte sie öffnete, stellte er fest, dass sie nicht nur vollkommen leer war, sondern zudem auffällig sauber. Nach Anthea Tatarous Angaben war die Kühltruhe bereits abgetaut und gereinigt gewesen, als sie die Wohnung ihrer Nachbarin zwecks Auflösung betreten hatte. Das dem Leichensuchhund antrainierte Zeichen – er hatte an der Truhe gekratzt – bedeutete allerdings unzweifelhaft, dass in dieser Kühltruhe entweder die sterblichen Überreste einer oder mehrerer Personen verstaut gewesen sein mussten oder zumindest Gegenstände, die mit verfaulendem menschlichen Gewebe in Kontakt gekommen waren.
Die Angaben von Anthea Tatarou, wie und wo sie die sterblichen Überreste der vier Kinder gefunden hatte, waren absolut glaubwürdig, zudem wurden ihre Angaben zu ihrem lediglich nachbarschaftlichen Verhältnis zu Corinna Joosten von ihrem Lebensgefährten bestätigt. Deshalb bestand gegen sie zu keinem Zeitpunkt auch nur ein Anfangsverdacht.
Auch wenn es keinen Beweis gab, gingen die Ermittler davon aus, dass Corinna Joosten die Babyleichen zwischenzeitlich in der Kühltruhe deponiert hatte.
Ich bin davon überzeugt, dass die Mutter der toten Kinder erst unmittelbar vor ihrem Suizid alle Leichen aus der Truhe genommen und im Hocker versteckt hat. Sicher dachte sie, dass nach ihrem Tode ihr gesamtes Mobiliar entsorgt werden würde, ohne dass noch jemand einen näheren Blick darauf warf. Doch weshalb wollte sie nicht, dass jemand die Leichen entdeckt, wo sie ohnehin vorhatte, in den Tod zu springen? Um sie selbst ging es dabei anscheinend nicht. Ging es vielleicht darum, dass die Väter nichts erfahren sollten?
Die Polizei konnte drei frühere Lebensgefährten aus den letzten
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